Als hätte sie meine Gedanken gelesen, bot sie mir nochmals die Hand und sagte:»Ich bin Anna Pemberton, deine Tante und die Schwägerin deiner Mutter. Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht an mich.?«
«Nein. Müßte ich das denn?«
Ihr kleines Auflachen klang gezwungen, aber der Ton war angenehm. Die füllige Haushälterin in ihrer Schürze starrte mich immer noch fassungslos an. Es sah aus, als würde sie sich ohne ausdrücklichen Befehl nicht von der Stelle rühren. Dennoch war es weniger das Verhalten dieser Frau, als das Verhalten von Tante Anna, das mich stutzig machte und beunruhigte: Dieses Lächeln der schmalen, rotgefärbten Lippen war nicht herzlich, es war eine Maske. Trotz des Lächelns, der Umarmung, der freundlichen Worte war Tante Anna überhaupt nicht erfreut, mich zu sehen, das fühlte ich.
«Gertrude, bringen Sie uns den Tee in den Salon. «Sie machte eine ungeduldige Handbewegung, und die Haushälterin eilte davon.»Laß deine Tasche hier. Einer unserer Angestellten kann sie in dein Zimmer hinaufbringen. Du mußt dich erst einmal ein wenig ausruhen. Gott, wie kalt es draußen geworden ist.«
So sehr mich die Aussicht auf ein warmes Zimmer und eine Tasse Tee lockten, ich wollte erst meiner Pflicht Genüge tun.»Kann ich nicht zuerst Tante Sylvia sehen?«
Mir schien es, als ob Anna zurückfuhr. Sie wußte offensichtlich nicht, was sie sagen sollte. Stumm standen wir einander gegenüber, zwei Fremde. Ich konnte mir vorstellen, daß Anna gern gewußt hätte, warum ich hier war, da sie offenbar von Sylvias Brief keine Kenntnis hatte. Gleichzeitig spürte ich, daß sie über Sylvia nicht sprechen wollte; das schien ein heikles Thema zu sein.
«Bitte«, sagte sie schließlich leise,»gehen wir in den Salon. Du wirst von der Reise sicher müde sein. Bist du mit der Eisenbahn gekommen?«
Ich bejahte.»Ich bin mit dem Zug nach Brighton bis East Wimsley gefahren. Von dort habe ich mir eine Droschke genommen. «Anna schauderte.»Schrecklich, die Eisenbahn. Ich bin selbst nie damit gefahren und werde es auch nie tun. Ich sage immer, wenn es Gottes Wille gewesen wäre, daß wir uns auf diese Weise fortbewegen, hätte er uns mit Rädern ausgestattet.«
Ich mußte lächeln, obwohl mir eigentlich gar nicht danach zumute war. Ich folgte ihr aus der Halle in einen Flur, der durch die Gaslampen an der Decke nur trübe erleuchtet war. Anna ging langsam, und ein Blick auf ihr Gesicht verriet mir, daß sie völlig aus dem Gleichgewicht geworfen war. Während ich neben ihr herging, schaute ich mich um, suchte nach Erinnerungen, aber der düstere Flur blieb mir so fremd wie das elegante Zimmer, in das Anna mich führte.
Lichterglanz und heller Feuerschein empfingen uns, schwere, geschnitzte Möbel und hochgepolsterte Sessel und Sofas. An einer Wand stand ein Klavier. Tischchen mit Blumenvasen, Kerzenleuchtern und dekorativen kleinen Kästchen nahmen den größten Teil des freien Raums ein, so daß ich mich vorsichtig bewegen mußte, um mit meinem ausladenden Rock nicht eine kleinere Katastrophe heraufzubeschwören. Auf dem Kaminsims, umgeben von Nippes und Staffordshire Figurinen stand eine Uhr, deren Zeiger auf kurz vor fünf zeigten.
Nachdem Anna mir den Umhang und den Hut abgenommen hatte, setzten wir uns auf ein Sofa und unterhielten uns über das unfreundliche Wetter. Ich bemerkte, daß Anna mich mit hastigen Blicken von Kopf bis Fuß musterte — die abgetragenen Lederstiefeletten, das schmucklose Kleid mit den altmodisch engen Ärmeln, die schlichte Haartracht. Ich kam ihr wahrscheinlich vor wie eine arme Kirchenmaus, in der Mode von gestern gekleidet. Aber vor allem schien sie mein Gesicht zu fesseln. Ich hatte das Gefühl, daß sie in meinen Zügen etwas ganz Bestimmtes suchte; während sie über das Wetter plauderte, musterte sie es sehr genau — meine dunklen Augen mit den dichten Wimpern, die etwas zu große Nase, den geschwungenen Mund, das feine Grübchen am Kinn. Und während sie mich aufmerksam betrachtete, beobachtete ich sie, wartete auf eine Reaktion, die mir zeigen würde, daß sie entdeckt hatte, was sie suchte.
«So, du bist also gekommen, um uns zu besuchen?«fragte sie, als der Tee gebracht wurde.»Sahne und Zucker?«
Das prachtvolle silberne Service war offensichtlich sehr alt. Ich fragte mich, ob ich früher schon einmal aus diesen Tassen getrunken hatte.»Weißt du, wir haben so selten Gäste hier, wir sind gar nicht darauf eingerichtet. Wenn wir nur gewußt hätten nun, du hattest vielleicht keine Zeit zu telegrafieren. Du hättest vom Bahnhof aus keine Droschke zu nehmen brauchen. Wir hätten dir gern einen Wagen geschickt. Dann hätten wir dich auch in passenderer Weise empfangen können. Du weißt gar nicht, welche Überraschung dein Besuch ist. «Ihr silberner Teelöffel schlug klirrend an den Tassenrand.»Das Haus birgt sicher viele Erinnerungen für dich, Leyla. «Beim Teetrinken schien Anna gelöster und lebhafter zu werden.»Wie aufregend muß dieser Besuch für dich sein. Nach so langer Zeit!«
«Ja, sehr aufregend«, sagte ich langsam.
An den Wänden hingen keine Porträts, keine gerahmten Daguerrotypien, die mir einen Hinweis hätten geben können, wie die anderen Angehörigen meiner Familie aussahen.
Tatsächlich wußte ich nicht einmal, wie viele Menschen unter diesem Dach lebten, ob sie mich kannten, sich meiner erinnern würden. Ein inneres Gefühl warnte mich davor, Anna wissen zu lassen, daß ich hier fremder war als sie ahnte. Zumindest vorläufig, bis ich sie — und die anderen — besser kannte, wollte ich das für mich behalten.
«Du warst ein entzückendes Kind«, plauderte sie weiter.»Und wie ähnlich du deiner Mutter bist. Wirklich, als ich dich vorhin in der Halle sah, glaubte ich, du wärest Jennifer.«
«Oh — danke. «Ich war wirklich geschmeichelt. Meine Mutter war eine Schönheit gewesen.
«Aber sag doch — «Sie rührte gedankenverloren in ihrem Tee.»Wie geht es deiner Mutter überhaupt?«
Ich senkte den Kopf. Zwei Monate waren vergangen, aber immer noch war es so schmerzhaft, als wäre es gestern gewesen.»Meine Mutter ist tot.«
«Tot? Oh, das tut mir aber leid!«Schwang da nicht Erleichterung in ihrer Stimme.»Dein Vater und mein Mann waren Brüder. Ich fühlte mich mit ihr immer wie mit einer Schwester verbunden. Wir haben viele vergnügte Stunden zusammen verlebt, deine Mutter und ich.«
Ich sah diese redselige Frau erstaunt an. Niemals, so weit ich zurückdenken konnte, hatte meine Mutter Anna Pemberton erwähnt.»Dein Onkel Henry wird sich sehr freuen, wenn er dich sieht. Er und Theo — dein Vetter Theodore — haben dich immer mit einem Spitznamen gerufen. Erinnerst du dich? Sie nannten dich Bunny, weil du immer herumgehüpft bist wie ein kleines Häschen. Damals warst du fünf Jahre alt, Leyla. Ja, es ist lange her.«
Nicht die leiseste Erinnerung daran regte sich. Die Jahre bis zu meinem sechsten Geburtstag lagen in tiefstem Dunkel. Es war, als wäre ich in London zur Welt gekommen und nicht hier. Vor vielen Jahren hatte ich in kindlicher Neugier meine
Mutter gefragt, warum ich mich nicht wie andere an meine frühe Kindheit erinnern konnte. Die kurze Antwort, die sie mir gegeben hatte, hatte nichts geklärt.»Das liegt an dem, was damals geschehen ist«, hatte sie gesagt und war auf weitere Fragen von mir nicht eingegangen. Danach hatte ich das Thema nie wieder zur Sprache gebracht.
«Und deine Cousine Martha erinnert sich natürlich an dich. Sie war zwölf, als man dich — äh, als du von hier fortgingst. «Anna schwieg, und ich hatte einen Moment Zeit, meinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Bildete ich es mir ein, oder war das Verhalten dieser Frau äußerst vorsichtig? Ihre Sprechweise erschien mir verkrampft und zögernd, als fürchte sie ständig, etwas Falsches zu sagen. Sie ließ noch ein Stück Zucker in ihre Tasse fallen und rührte wieder geräuschvoll um.»Großmutter kann dich jetzt noch nicht empfangen. Du hast also Zeit, dich frischzumachen.«
Ich zog die Brauen hoch. Eine Großmutter hatte ich also auch. Innerhalb weniger Minuten war aus der Waise Leyla Pemberton eine junge Frau mit einer großen Familie geworden.
Anna wandte sich jetzt von mir ab und zwang sich, scheinbar gleichmütig ins Feuer zu blicken, doch ich spürte deutlich, daß sie nicht die gelassene Gastgeberin war, die sie mir vorzuspielen suchte.»Und wenn du deinem Vetter Colin begegnen solltest«, sagte sie jetzt mit einem künstlich scherzhaften Lächeln,»dann solltest du ihm am besten mit einer höflichen Entschuldigung aus dem Weg gehen. «Ich hatte also noch einen Vetter.»Warum denn?«
«Nun, Colin ist — wie soll ich sagen?«Sie lachte ein wenig.»Er hat eine Neigung zur Exzentrik. Wir haben ihn alle von Herzen gern, aber er schlägt gern einmal über die Stränge, wenn du verstehst, was ich meine. Er hat überhaupt keine Manieren, und es wäre mir gar nicht recht, wenn du ihn vor den anderen kennenlernst. Du wirst ihn natürlich kennenlernen, aber erst später, nach Theodore und Martha.«
«Danke«, sagte ich ohne Überzeugung. Da ich die Frau überhaupt nicht kannte, wußte ich nicht, wie ich ihre Worte auslegen sollte. Wollte sie mich vor Colin schützen oder Colin vor mir?» Und Tante Sylvia?«fragte ich.
«Warte es ab, Kind. Du wirst die ganze Familie kennenlernen, wie du dir das sicher wünschst. Und wenn sie hören, daß du hier bist, werden sie sich ebenso sehr wünschen, dich wiederzusehen. Nach zwanzig Jahren sind gewiß alle sehr gespannt zu hören, was aus dir geworden ist, Leyla. Ah, ich sehe, du bist mit dem Tee fertig. Komm, ich bringe dich jetzt in dein Zimmer hinauf. Du wirst müde sein. Dann suche ich Theo. Er wird dich so bald wie möglich kennenlernen wollen.«
Mit raschelnden Unterröcken standen wir auf. Der Feuerschein lag warm auf unseren Gesichtern, während draußen der Wind wilder als zuvor an den Fenstern rüttelte. Ich hatte ein Gefühl, als stünde ich neben mir, als sei dieses elegante Zimmer eine Bühne und ich die Zuschauerin. Ich sah ein warmes, behagliches Zimmer, das mit Geschmack und allen Symbolen des Wohlstandes eingerichtet war. Ich sah zwei Frauen, die einander in stummer Konfrontation gegenüb erstanden: teuer gekleidet die eine, mit der selbstsicheren Gewandtheit der Reichen; schlicht und bescheiden die andere. Und in diesem Augenblick fragte ich mich, was, um alles in der Welt, diese beiden Frauen miteinander zu tun hatten.
«Erzähle mir doch etwas aus London, Leyla. Ist die Stadt immer noch so laut und schmutzig? Ich war 1851 das letztemal dort, zur Weltausstellung. Es war eine atemberaubende Woche. Theo, dein Onkel Henry und ich waren fast Tag und Nacht unterwegs, um alles anzusehen; die Westminster Abbey, den Tower, den Zoo im Regent’s Park. Und die unglaublichen
Gerichte aus aller Herren Länder, die man uns dort vorsetzte.«
Während ich an ihrer Seite durch das Haus ging, schaute ich mich neugierig um. Die Böden waren mit schweren Teppichen bedeckt, die unsere Schritte dämpften, Gobelins schmückten die Wände. Hohe Topfpflanzen neigten sich aus schattigen Winkeln. Öllampen spendeten flackerndes Licht. Wir stiegen die Treppe zu den oberen Zimmern hinauf, und nirgends hing auch nur ein einziges Familienporträt.»Wir haben nur in der Halle und in einigen Zimmern Gasbeleuchtung. In London gibt es wohl überall Gas, sogar auf den Straßen, wie ich gehört habe. Theo wollte es unbedingt haben; er behauptet, es sei weniger gefährlich. Aber deine Großmutter ist absolut dagegen. Teufelswerk, sagt sie immer. Sie hat für die modernen Errungenschaften nichts übrig. Sie lebt lieber in der Vergangenheit.«
Warum gab es hier keine Bilder? Warum hing nirgends auch nur das kleinste Porträt eines oder einer Pemberton?
«Ich habe dir das Zimmer ganz hinten auf dem Flur gegeben. Es ist recht komfortabel. Es hat ein Himmelbett und eine dieser neuen Sitzbadewannen aus Paris. Das war Großmutters einziges Zugeständnis an die heutige Zeit — daß man sich jetzt im Schlafzimmer baden kann und nicht mehr in die Küche muß. Ich finde es sehr angenehm. Du nicht auch?«Ich nickte nur.
«Wir haben jetzt auch Seife. Gott, wie die Zeiten sich ändern. So, da sind wir.«
Anna erzählte immer noch weiter, während wir in das Gästezimmer traten, und ich begann mich zu fragen, ob das endlose Gerede nicht dazu dienen sollte, unangenehme Themen zu vermeiden. Das Zimmer war sehr schön, mit einer alten Kassettendecke und hohen Fenstern. Spiegel gab es gleich mehrere; ein Toilettentisch stand an der Wand links vom Fenster. Das Himmelbett war bereits aufgeschlagen, und im Kamin brannte ein helles Feuer. Der Porzellankrug auf der Kommode war mit Wasser gefüllt, frische Handtücher lagen daneben. Meine Reisetasche stand auf dem Stuhl neben dem Toilettentisch. Bemüht, die aufmerksame Gastgeberin zu sein, aber dennoch unverkennbar in großer Eile, ging Anna wieder zur Tür und sagte:»Ich schicke Theo in die Bibliothek. Geh zu ihm hinunter, wenn du fertig bist. Dann könnt ihr euch gleich kennenlernen. Wenn du etwas brauchst, dann läute einfach. Der Klingelzug ist neben dem Bett. Bis nachher, mein Kind. «Sie schickte sich an, die Tür zu schließen.»Ach und — du denkst doch daran, nicht wahr? Colin, meine ich. Wenn du ihm zufällig begegnen solltest — aber nein, das wird nicht geschehen. «Ihre Hände flatterten unruhig.»Zuerst wirst du Theo kennenlernen. Dafür will ich schon sorgen. «Geräuschlos schloß sie die Tür hinter sich. Das war nicht der Empfang, den ich erwartet hatte, auch wenn man berücksichtigte, daß niemand im Haus von meinem Kommen gewußt hatte. Annas Nervosität konnte ihrem Alter zuzuschreiben sein oder vielleicht meiner starken Ähnlichkeit mit meiner Mutter. Von einem Moment auf den anderen um zwanzig Jahre zurückversetzt zu werden, konnte wohl jeden aus der Fassung bringen.
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