Das seltsam beklemmende Gefühl abschüttelnd, das meine redselige Tante bei mir ausgelöst hatte, begann ich auszupacken und versuchte, mir das Zimmer so persönlich und wohnlich wie möglich einzurichten. Nach dem Tod meiner Mutter hatte ich unsere gemeinsame Wohnung aufgegeben, die Möbel verkauft oder verschenkt und nach Pemberton Hurst nur meine Garderobe und einige persönliche Dinge mitgenommen, von denen ich mich nicht hatte trennen wollen. Diese kleinen Dinge verteilte ich jetzt in dem fremden Zimmer.
Die Daguerrotypie meiner Mutter stellte ich neben das kleine Schmuckkästchen aus Muscheln auf den Kaminsims. Auf den Nachttisch legte ich drei Bücher: >Stolz und Vorurteil< von Jane Austen, >Tancred< von Benjamin Disraeli und die Bibel. Auf den Toilettentisch mit dem hohen Spiegel legte ich den Führer durch den Cremorne Park, eine Erinnerung an sehr glückliche Tage, und neben den Wasserkrug stellte ich den kleinen Flakon Rosenwasser, ein Geschenk von Edward Champion, dem Mann, den ich liebte und bald heiraten wollte.
Nachdem ich dem Zimmer auf diese Weise etwas persönliches Flair gegeben, nachdem ich meine Kleider aufgehängt, mich gewaschen und mein Haar gründlich gebürstet hatte, fühlte ich mich gleich viel besser. Ja, die Reise mit der Eisenbahn war anstrengend gewesen, aber bei weitem nicht so strapaziös wie sie mit der Droschke gewesen wäre. Ich war müde und hungrig, vor allem aber war ich glücklich, endlich wieder eine Familie zu haben, in das Haus zurückgekehrt zu sein, wo ich geboren war, einem neuen Leben entgegenzusehen. Hätte ich gewußt, wie sehr ich mich täuschte!
Als ich etwas später die Treppe hinunterstieg, fiel mir die tiefe Stille des Hauses auf. Es war fast sieben Uhr, draußen war es stockfinster und hier drinnen so ruhig wie in einem Museum. Leise raschelnd streifte der Saum meiner Röcke über die dicken Teppiche, die meine Schritte verschluckten. Hätte ich jetzt sprechen müssen, so hätte ich sicher geflüstert.
Und wieder kam mir deutlich zu Bewußtsein, daß nirgends in diesem Haus ein Bild eines Familienmitglieds hing. Ich kam zum Salon, warf einen Blick hinein und sah, daß er leer war. Mit einiger Mühe, vorsichtig Raum um Raum inspizierend, gelangte ich schließlich in die Bibliothek, in der es nach altem
Leder roch. Das Feuer im offenen Kamin spendete willkommene Wärme und Gaslampen drängten die Schatten in die Ecken. Als ich eintrat, sah ich sogleich, daß ich nicht allein war.
In einem Sessel beim Feuer saß lässig, die Beine in den Schaftstiefeln lang ausgestreckt, die Arme über der Brust verschränkt, ein Mann von ungefähr fünfunddreißig Jahren. Als ich mich näherte, sah er auf, schien aber von meinem Erscheinen weder überrascht noch gestört. Ich hatte sogar den Eindruck, daß er mich erwartet hatte. Ich holte einmal tief Atem und ging direkt auf ihn zu.»Hallo, Theo«, sagte ich so gewinnend wie möglich.»Ich bin Leyla. Tante Anna sagte mir, daß ich dich hier treffen würde, und riet mir«- ich lächelte spitzbübisch —»eine Begegnung mit dem exzentrischen Colin unter allen Umständen zu vermeiden. Offenbar befürchtete sie eine Katastrophe. «Er stand auf, groß und gerade, und sagte trocken:»Guten Tag, Leyla. Ich bin allerdings nicht Theodore, sondern Colin.«
Kapitel 2
In meiner Verlegenheit wußte ich nicht, was ich sagen sollte. Nicht einmal eine Entschuldigung brachte ich zustande. Statt dessen stand ich stocksteif und mit hochrotem Gesicht vor dem Mann. Seine Augen, die ganz ruhig auf mich gerichtet waren, waren grün. Die Wimpern und die Brauen waren so dunkel wie das Haar, das ihm wellig fast bis zu den Schultern hinunterfiel. Er hatte eine hervorspringende Nase, die sehr gerade war, und einen klar gezeichneten Mund, um den jetzt ein ärgerlicher Zug lag.
In seinem Gesicht entdeckte ich keines der typischen Pemberton-Merkmale — weder die dichten Wimpern noch das Grübchen am Kinn —, die, wie meine Mutter einmal gesagt hatte, mich als einen Sproß dieser Familie kennzeichneten. Unwillkürlich verglich ich diesen Mann mit Edward Champion, meinem Verlobten. Colin schnitt bei dem Vergleich nicht sonderlich gut ab. Sein Gesicht mochte einen gewissen Charme haben, wenn er lächelte, aber mit Edward konnte er es nicht aufnehmen.
Allmählich fand ich die Sprache wieder.»Oh, verzeih’ mir. Das war unglaublich ungezogen von mir.«
Er zuckte die Achseln.»Woher hättest du wissen sollen, wer ich bin? Typisch Tante Anna, nichts als Verwirrung zu stiften. Komm, setz dich doch. Hier im Haus hat alles seine genaue Ordnung, weißt du. Das Abendessen wird um Punkt acht serviert, ob man ohne Appetit ist oder völlig ausgehungert. Und du kannst nach der langen Reise nur das eine oder das andere sein.«
«Du scheinst ja bereits gründlich über mich unterrichtet.«»Neuigkeiten sprechen sich hier schnell herum. Aber — «er setzte sich wieder, streckte seine langen Beine aus und kreuzte die Füße —»das wirst du bald selbst merken. Geheimnisse gibt es hier nicht.«
«Bist du Theos Bruder?«
«Was?«Er lachte ohne Heiterkeit.»Ich bin so wenig sein Bruder wie du meine Schwester bist. Er ist mein Vetter und dein Vetter, und ich bin auch dein Vetter.«
«Ich verstehe.«
«Nein, das glaube ich dir nicht. Für eine Pemberton weißt du erstaunlich wenig über die Pembertons! Ich kann mir denken, daß deine Mutter am liebsten überhaupt nicht von uns gesprochen hat. Also, paß auf: Unseren Ursprung haben wir alle bei dem ehrwürdigen Sir John Pemberton, der nunmehr seit zehn Jahren tot ist, und seiner Frau Abigail. John und Abigail hatten drei Söhne: Henry, Richard und Robert. Henry ist Theos Vater. Richard ist mein Vater. Und Robert war dein Vater.«
«Und Martha?«
«Martha ist meine Schwester.«
«Und wie ist Tante Sylvia mit uns allen verwandt?«
«Sie ist Abigails unverheiratete Schwester. Sie zog vor ungefähr fünfzig oder sechzig Jahren mit ins Haus, als Abigail John heiratete.«
«Ich verstehe«, sagte ich wieder.»Ich freue mich schon darauf, alle kennenzulernen. Henry und Theo, deinen Vater — «
Colins Gesicht verdunkelte sich.»Mein Vater ist tot. Meine Mutter ebenfalls. Von den drei Söhnen Johns und Abigails lebt nur noch einer, Henry. Theos Vater. Und von den Frauen dieser Generation leben noch Tante Anna und deine Mutter.«
«Meine Mutter ist auch tot«, sagte ich leise.
«Ach?«Er schien nicht überrascht zu sein.»Dann bist du wohl deshalb hierher gekommen? Weil du jetzt ganz allein bist?«Seine Worte wirkten auf mich wie eine Anklage, und in seinem Ton schien mir Spott mitzuschwingen, der mich ärgerte.
«Ich bin aus persönlichen Gründen hierher gekommen. Unter anderem, weil ich den Wunsch hatte, meine Familie wiederzusehen. Und das Haus, in dem ich geboren bin.«
Jetzt wandte er mir seine ganze Aufmerksamkeit zu, und ich sah die Ernsthaftigkeit in seinem Blick. Von seiner Lässigkeit war nichts zu spüren, als er fragte:»Und? Siehst du in uns noch etwas, das mit deinen Erinnerungen übereinstimmt?«
Ich sah ihm in die blaßgrünen Augen und wußte, daß er eigentlich eine andere Frage stellte. In Wirklichkeit wollte er wissen, ob ich mich überhaupt noch an ihn und die übrigen Familienmitglieder erinnerte. Ausweichend antwortete ich:»In zwanzig Jahren verändern sich die Menschen.«
«Sehr gut gesagt, liebe Cousine. Vor zwanzig Jahren war ich ein Knabe von vierzehn, und du warst gerade fünf. Es bekümmert mich tief, sehen zu müssen, daß die Liebe nicht von Dauer war.«
«Die Liebe?«
«Du hast mich damals regelrecht angeschwärmt, Leyla. Du bist mir überallhin gefolgt wie ein treues Hündchen.«
Ich errötete. Zugleich jedoch machten mich seine Worte traurig, da sie von glücklicheren Zeiten sprachen, die ich erlebt hatte, aber nicht erinnern konnte. Ich fand es beklemmend, ja, erschreckend, daß ich in all den Stunden des Suchens und verzweifelten Bemühens, meine Vergangenheit zurückzuholen, nicht einmal auf ein Bruchstück einer Erinnerung an Colin Pemberton gestoßen war.
«Hinter dem Haus — ich weiß nicht, ob du dich daran entsinnst — liegt eine große verwilderte Wiese, die Tante Anna hochtrabend den Garten nennt, und jenseits dieses Feldes ist ein Akazienwäldchen. Dort war, als wir alle noch Kinder waren, unser liebster Spielplatz. Mittendrin steht die Ruine eines alten Schlößchens, und das war unser Reich. Erinnerst du dich?«
Ich schüttelte den Kopf.
«Anfangs spielten nur Theo und ich dort unten. Aber er ist vier Jahre älter als ich, und als er sich für diese Spiele zu alt fühlte, während ich noch Spaß daran hatte, stießen Martha und dein Bruder Thomas zu mir und bald auch du, so klein du warst. Du hast da unten immer das Häschen gespielt und bist herumgesprungen wie ein kleiner Kobold. Immer vergnügt und ausgelassen. Bist du immer noch so, Leyla?«Aber ich hörte seine letzten Worte nur mit halbem Ohr. Ich war in Gedanken im Akazienwäldchen, eines von vier fröhlichen Kindern, die dort spielten und herumtollten, als gäbe es kein Morgen. Nur leider sah ich diese Bilder mit den Augen Colins und nicht so, wie ich selber sie vielleicht in Erinnerung hatte. Ich erinnerte mich dieser unbekümmerten Spiele so wenig, wie ich mich seiner Schwester Martha und meines Bruders Thomas erinnerte.
«Du hast überhaupt keine Erinnerung daran, nicht wahr?«hörte ich ihn behutsam sagen.
«Wie bitte?«Ich sah auf und bemerkte, daß er mich mit großer Aufmerksamkeit betrachtete.»Ach, ich war damals noch so klein. Hast du denn Erinnerungen an die ersten fünf Jahre deines Lebens?«
«O ja, eine ganze Menge.«
Ich senkte die Lider und starrte ins Feuer. Wieder empfand ich dieses Unbehagen. Wie zuvor bei Anna hatte ich auch jetzt bei Colin das Gefühl, daß er nicht sagte, was er wirklich dachte.
Impulsiv stand ich auf und ging zum Kamin, über dem ein sehr großer alter Spiegel hing. Nicht nur mich konnte ich darin sehen, sondern auch das Zimmer hinter mir und Colin in seinem Sessel, scheinbar in lässiger Pose und doch so angespannt.
Nun ja, für diese Leute war ich wahrscheinlich ein Gespenst aus der Vergangenheit. Ich hatte große Ähnlichkeit mit meiner Mutter, das gleiche schwere schwarze Haar, die gleiche helle Haut. Aber meine Lippen sahen im Spiegel grau und farblos aus, und meinen Augen fehlte der Glanz. Meine Mutter war eine Schönheit gewesen, ich war es nicht; schon gar nicht jetzt, da Anstrengung und Verwirrung mein Gesicht zeichneten. Hatte ich auch so am Bahnhof in London ausgesehen, als Edward mich gebeten, fast angefleht hatte, nicht zu fahren? Hatte er in dieses bleiche, leblose Gesicht geblickt, als er beteuert hatte, der Gedanke an meine Schönheit werde ihm an einsamen Abenden Trost sein? Der gute Edward. Es war so gar nicht seine Art, in aller Öffentlichkeit seine Zuneigung zu beteuern. Immer höflich, stets sich der Formen bewußt, das war Edward, der vollendete Gentleman im Gegensatz zu meinem Vetter Colin, diesem ungehobelten Flegel.
Colin bemerkte mein Lächeln, und ich glaube, einen Moment lang war er verärgert.»Du amüsierst dich?«
Ich drehte mich um.»Ich habe nur an etwas Angenehmes gedacht.«
«Aus der Vergangenheit?«
«Nein, an meinen Verlobten.«
«Du bist verlobt?«Mit einem Ruck fuhr er in die Höhe.»Ja, überrascht dich das?«
«Und der Mann hat dich allein hierher reisen lassen?«Ich kehrte zu meinem Sessel zurück und setzte mich.»Nur weil ich darauf bestand. Er wollte mich nicht reisen lassen. Aber ich mußte hierher kommen. Nur dieses eine Mal wenigstens. Meine Mutter ist tot. Ihr tut es nicht mehr weh, und ich wollte das Haus und die Familie wiedersehen, ehe ich heirate.«
Colin legte die Fingerspitzen beider Hände aneinander und sah mich nachdenklich an. Ich schien ihn auf einen interessanten Gedanken gebracht zu haben. Seine nächste Frage überraschte mich.»Wieso glaubst du, dein Besuch bei uns hätte deiner Mutter weh getan?«
«Ich weiß nicht… es war nur so ein Gefühl.«
«Hat sie dir von uns erzählt?«
«Nein, nichts.«
«Als wollte sie vergessen, daß es uns gibt.«
«Entschuldige, Colin, aber ich denke, das kann man ihr nicht verübeln. Als meine Mutter von hier fortging und nach London zog, war sie völlig mittellos und ohne jede Hilfe. Sie mußte ganz allein ein Kind großziehen und sehen, wie sie damit zurecht kam. Jahrelang hat sie sich als Hausschneiderin abgemüht, für reiche Frauen genäht, die sie schlimmer behandelten als ihre eigenen Domestiken. Sie war eine Frau aus bester Familie, die das Leben einer kleinen Arbeiterin führte. Meine Mutter war mit einem Pemberton verheiratet gewesen, ich war eine Pemberton, und dennoch lebten wir acht Jahre lang in Armut, während die Pembertons wie die Fürsten lebten. «Ich machte eine umfassende Geste.»Deine Bitterkeit ist nicht berechtigt, Leyla. Du darfst nicht vergessen, daß es deine Mutter war, die uns verließ; nicht wir sie. Niemand wußte, wohin sie gegangen war, als sie damals plötzlich verschwunden war und ihre gesamte Habe hier zurückgelassen hatte. Wir wußten nur, daß sie fort war und dich mitgenommen hatte. Und wir haben nie wieder von ihr gehört. Bis zum heutigen Tag.«
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