Er musterte mich aufmerksam, und ich wurde rot unter seinem forschenden Blick.

Ich wandte mich von ihm ab. Ich wollte mich in diesem Moment nicht durchschaut wissen. In mir tobte ein Aufruhr der Gefühle: Liebe zu Colin, Trauer und Schmerz um die Toten, Trotz und Erbitterung gegen den unbekannten Feind und, vor allem — Zorn.»Darf ich Sie jetzt nach Hause bringen?«fragte Dr. Young. Obwohl er mich schon zuvor daran erinnert hatte, wie spät es war, überraschte es mich jetzt, wie lange ich hier gewesen war. Hastig stand ich auf.

«Danke«, sagte ich,»das ist sehr freundlich von Ihnen. Verzeihen Sie mir, wenn ich Sie von Ihrer Arbeit abgehalten habe. Ich hatte nicht vor, Sie so lange zu belästigen.«

«Aber nein, ich habe mich über Ihren Besuch gefreut und ich bin froh, daß ich Ihnen eine kleine Hilfe sein konnte. «Er meinte es ehrlich, das fühlte ich.

«Danke, Doktor«, sagte ich.»Ich weiß nicht, was ich ohne Sie getan hätte.«

«Eines muß ich Ihnen allerdings noch sagen, Miss Pemberton, ehe Sie gehen. Es ist meine Pflicht als Arzt, meinen Befund der Polizei mitzuteilen. Nein, warten Sie«, sagte er, als ich ihn unterbrechen wollte.»Lassen Sie mich ausreden. Ich muß die Polizei unterrichten, das wissen Sie. Aber aus Rücksicht auf Sie und das, was Sie tun müssen, werde ich warten, solange es mir mein Gewissen erlaubt, ehe ich Meldung mache. In der Zwischenzeit haben Sie mein volles Vertrauen.«

Mrs. Finnegan betrachtete mich immer noch mit Mißbilligung, als Dr. Young mir in mein Cape half, aber es war mir völlig gleichgültig. So vieles war mir gleichgültig geworden. London und Edward gehörten einer Vergangenheit an, die so fern schien wie ein Traum. Nur Colin bedeutete mir etwas in diesem Moment. Colin und meine Familie. Nie werde ich den Geruch feuchten Leders vergessen, der mich empfing, als ich in den Wagen stieg, niemals das Geräusch des Regens, der an die Wände des Wagens prasselte. Der Hufschlag des Pferdes klang dumpf auf den durchweichten Wegen, manchmal knirschten die Räder, wenn sie über einen Stein rollten. Während der Wagen schwankend dahinfuhr, starrte ich auf den nickenden Kopf des Pferdes und die lange Mähne, die am Hals des Tieres klebte. Die Zweige regenschwerer Tannen streiften den Wagen, als wir vorüberfuhren. Regen sprühte hinein, benetzte mein Gesicht und befeuchtete die Decke über meinen Knien. Ich sprach kein Wort. Es gab nichts zu sagen. Dr. Young, der die Zügel hielt, verstand es und ließ mich schweigen.

An der Stelle, wo die Auffahrt zum Haus von der Straße abzweigte, bat ich Dr. Young anzuhalten.

«Von hier ist es nur noch ein kurzes Stück, und ich möchte die Familie in dem Glauben lassen, daß ich nur spazieren war.«

«Gut, wenn Sie meinen«, sagte er widerstrebend.»Aber versprechen Sie mir eines, Miss Pemberton: Wenn Sie zu einer Entscheidung gelangt sind, dann lassen Sie es mich wissen, ehe Sie handeln. «Ich mußte ein wenig lächeln über seine Besorgnis.»Das verspreche ich Ihnen gern. Aber es ist sicher, daß ich etwas tun muß. Und bald. Wir wissen ja nicht, ob der Mörder nicht schon wieder ein neues Opfer gefunden hat. Drei Menschen sind tot. Vielleicht trifft es bald den nächsten.«

Dr. Young war erschrocken. Dieser Gedanke war ihm offenbar noch nicht gekommen.»Miss Pemberton«, sagte er eindringlich,»seien Sie vorsichtig. Bitte, seien Sie vorsichtig.«

«Aber gewiß, Doktor. Und nochmals vielen Dank für Ihre Hilfe heute nachmittag.«

Dr. Young stieg aus und half mir aus dem Wagen. Nachdem ich mich von ihm verabschiedet hatte, eilte ich mit gerafften Röcken die Auffahrt hinauf, während der Wagen davonfuhr.

Jetzt, da ich allein war, konnte ich beginnen, etwas Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Colin hatte natürlich Vorrang, würde ihn immer haben. Ja, ich mußte zugeben, daß Colin der einzige war, der durch Henrys Tod gewonnen hatte. Aber das besagte noch lange nicht, daß er selbst das vorher gewußt hatte. Es war möglich, daß Colin genau wie Theodore geglaubt hatte, Henry hätte ein Testament hinterlassen. Wenn dem so war, folgte daraus, daß nicht derjenige, der tatsächlich durch

Henrys Tod gewonnen hatte, der Schuldige war, sondern viel eher derjenige, der erwartet hatte, aus dem Tod Nutzen zu ziehen.

Diese Überlegung erschien mir überzeugend. Aber als ich mich dem Haus näherte, und seine Türme über den Baumkronen auftauchten, fielen mir mein Vater und Sir John ein. Diese beiden Todesfälle paßten nicht zu meiner Vermutung. Es war zwar möglich, daß Theo geglaubt hatte, durch den Tod seines Vaters ein Vermögen zu gewinnen; was aber sollte er sich davon erhofft haben, meinen Vater und Sir John zu ermorden? Außerdem war er zu der Zeit, als Sir John sich vom Ostturm gestürzt hatte, mit seiner Familie in Manchester gewesen.

Es ergab keinen Sinn. Für jeden einzelnen Mord konnte ich einen Grund finden; ein gemeinsamer war nicht zu erkennen. Und doch waren alle Morde auf die gleiche Weise verübt worden.

Mit dieser äußerst schwierigen Frage beschäftigte ich mich, als ich naß und frierend die Treppe zum Haus hinauflief.

Martha riß überraschend die Haustür auf, noch ehe ich sie erreicht hatte.

«Leyla!«rief sie atemlos.»Wo bist du so lange gewesen? Niemand wußte, daß du ausgegangen bist. Die anderen sind seit Stunden zu Hause, und wir haben uns große Sorgen um dich gemacht.«

«Ich war spazieren«, erklärte ich kurz.

«Großmutter ist wütend. Wirklich, ich habe sie noch nie so wütend erlebt. Sie wartet seit einer Ewigkeit auf dich — «

«Warum denn? Was soll ich denn jetzt wieder getan haben?«

«Komm erst einmal herein. Nein, nein, du kannst jetzt nicht nach oben gehen. Sie ist im Salon. Mit allen anderen.«

«Aber ich bin ganz durchnäßt.«

«Das kommt davon, wenn man im Regen spazierengeht«, versetzte sie mit einer Schärfe, die mir bei ihr fremd war.»Los, komm jetzt, sonst fällst du noch tiefer in Ungnade.«

Nicht bereit, mich einschüchtern zu lassen, ließ ich Martha davoneilen, während ich ohne Hast Handschuhe, Hut und Umhang ablegte. Willis’ Buch steckte ich in die tiefe Tasche meines Umhangs, ehe ich, mit gleichgültiger Miene, in den Salon ging.

Das Bild war das übliche: Großmutter, unbeugsam und hoheitsvoll im Lehnstuhl, Anna und Martha vor ihr sitzend, zwischen ihnen stehend Theo. Colin war nicht zugegen.

Ich setzte mich nicht. Die Stimmung im Raum war düster, geprägt von der Strenge meiner Großmutter, von ihrer Kälte und ihrer Abneigung gegen Fröhlichkeit und Geselligkeit. Diese harte, versteinerte Frau beherrschte dieses Haus und ihre Familie wie eine Tyrannin.»Wo bist du gewesen?«fragte sie scharf, und ihre Blicke schienen mich durchbohren zu wollen.

«Ich habe einen Spaziergang gemacht, Großmutter.«

«An einem Tag der Trauer? Nennst du das Achtung vor den Toten?«

«Wir trauern jeder auf seine eigene Weise, Großmutter.«

«Komme mir nicht ungezogen. Ich bin nicht in Stimmung, mir deine Unverschämtheiten gefallen zu lassen. Ich bin äußerst verärgert über etwas, das heute geschehen ist. «Sie preßte die Lippen so fest aufeinander, daß alles Blut aus ihnen wich und sie nur noch zwei harte weiße Linien waren.»Wir haben einen Dieb im Haus!«rief sie mit schriller Stimme.»Und ich dulde keine Diebe unter meinem Dach. «Ich hätte beinahe lachen müssen, weil ich an den Mörder unter diesem Dach denken mußte, aber ich nahm mich zusammen und blieb ernst. Ich war nicht erpicht darauf, mir den Zorn dieser Frau zuzuziehen.»Soll ich wieder einmal die Schuldige sein?«fragte ich kühl.»Ich beschuldige niemals. Das tun nur

Schwächlinge. Aber ich verlange, daß das aufhört. Ich werde dafür sorgen, daß der Dieb gefaßt wird und seine Strafe bekommt. Der Diebstahl ereignete sich heute morgen, während ein Teil der Familie bei der Beerdigung war. Meine Schwiegertochter entdeckte ihn bei ihrer Rückkehr. Man stahl ihr eine wertvolle Kette und eine Brosche aus ihrem Zimmer, während sie ihrem toten Mann die letzte Ehre erwies.«

Ich sah zu Anna hinüber, die mit weißem, angespanntem Gesicht in ihrem Sessel saß. Sie wirkte überreizt und äußerst nervös.»Woher weißt du, daß die Sachen heute morgen gestohlen wurden?«fragte ich.

Meine Großmutter runzelte unwillig die Stirn. Es paßte ihr nicht, daß ich an ihren Worten zweifelte.

«Anna sagte, ehe sie ging, seien sie noch dagewesen. Von dir, meine Liebe, möchte ich wissen, wo du heute nachmittag spazierengegangen bist.«

Ich erwiderte, ohne mich einschüchtern zu lassen, ihren herrischen Blick. Ich würde mich dieser starrköpfigen alten Frau nicht unterwerfen. Ich wurde der Notwendigkeit, meiner Großmutter zu antworten, durch Colins Erscheinen enthoben.

«Ah, eine Familienversammlung«, sagte er von der Tür her. Ich drehte mich um. Mein Herz machte einen Sprung — es war ein ganz neues Gefühl für mich, das ich verwirrend und angenehm zugleich fand. Sein Blick glitt flüchtig über die anderen hinweg und blieb schließlich an mir hängen. Ein feines Lächeln, kaum merklich, flog über sein Gesicht, als unsere Blicke sich trafen, und ich hatte den Eindruck — ich betete förmlich darum, daß er stimmte! — , daß Colin das gleiche freudige Erschrecken verspürte wie ich.

Die Miene meiner Großmutter blieb unbewegt, aber ihre Haltung änderte sich auf kaum merkliche Art und damit die Atmosphäre im Raum: Sie wurde freundlicher, wärmer. Das konnte ich nun überhaupt nicht verstehen: Colin war kein

Pemberton und doch schien er der Grund für diese Änderung zu sein.

Mit großen Schritten durchmaß er das Zimmer und war an meiner Seite. Er gab sich lässig, nonchalant, als hätte er nicht die geringste Sorge der Welt.

«Tante Anna hat also ihre Lieblingskette verloren?«

«Nicht verloren«, korrigierte meine Großmutter grimmig.»Sie wurde ihr gestohlen, Colin. Eine niederträchtige Person schlich sich heute morgen in ihrer Abwesenheit in ihr Zimmer. Um die Zeit waren nur zwei Personen im Haus: Leyla und Martha.«

«Und du selbst, Großmutter. «Ihre Augen funkelten.»Richtig. Und ich selbst.«

«Und die Hausangestellten.«

«Die habe ich gefragt — «

«Du solltest vielleicht auch ihre Zimmer durchsuchen.«

«Deine Angriffslust gefällt mir nicht, Colin. «Die Stimme meiner Großmutter wurde keine Nuance lauter, aber ihre Erregung war deutlich zu spüren.»Wie ich diese Untersuchung durchführe, ist meine Sache. Ich habe im übrigen bereits Leylas Zimmer durchsucht.«

«Wie konntest du das wagen!«rief ich zornig und trat einen Schritt auf sie zu. Ich hätte wahrscheinlich einen Streit mit ihr begonnen, wenn nicht plötzlich Colin meine Hand gefaßt hätte. Obwohl er mich nicht ansah, sondern den Blick lächelnd auf Großmutter gerichtet hielt, spürte ich seine Besorgnis um mich.

«Ich habe dir schon vor Tagen gesagt, meine Liebe, daß du dieses Haus verlassen und niemals zurückkehren sollst«, fuhr meine Großmutter mich an.»Aber du bist ja so störrisch wie ein Esel. Dann trage jetzt auch die Konsequenzen. In diesem Haus hat niemand ein Recht auf einen eigenen Bereich, wenn es um das Wohl der Familie geht. Der Wert des Schmucks ist nicht von Belang. Hier geht es um das Prinzip.«

«Sind wir nicht vielleicht alle wegen des Todes von Henry ein wenig überreizt?«meinte Colin.

«Verdammt noch mal, Colin!«schrie Theo ihn so wütend an, daß ich zusammenfuhr.»Was kümmert dich denn der Tod meines Vaters?«Colin blieb ruhig.»Das ist jetzt unwesentlich, Theo. Im Augenblick geht es darum, daß ihr alle hier über Leyla zu Gericht sitzt. «Er drückte meine Hand.»Richter, Geschworene und Henker in einem, ihr alle zusammen. Ich finde das weder gerecht noch englisch.«

«Was du findest, ist mir verdammt noch mal völlig egal — «

«Darf ich dich daran erinnern, daß Damen anwesend sind?«

«Seit wann nimmst du Rücksicht auf den guten Ton?«

«Also, wirklich, Theo — «

«Halt’ endlich den Mund«, schrie Theo.»Ich habe genug von deinem Geschwafel. Und eines sage ich dir: Wer zuletzt lacht, lacht am besten.«

Es erstaunte mich, daß Colin es fertigbrachte, während dieser Haßtirade vollkommen unerschüttert zu bleiben. Ich hatte erwartet, daß er die Beherrschung verlieren und seinerseits wütend werden würde. Aber nichts dergleichen geschah. Es war beinahe so, als lege er es darauf an, Theo zu reizen, als beherrsche er ihn und hielt dabei selbst alle Fäden in der Hand.

«Ich habe dir«, sagte er ruhig,»die Hälfte des Erbes angeboten.«

«Auf dein Angebot kann ich verzichten.«

«Und die alleinige Leitung der Spinnereien.«

«Du beleidigst mich, Colin. «Theos Augen blitzten vor Zorn, seine Hände waren zu Fäusten geballt.»Ich will keine Almosen. Das, was ich am Ende haben werde, werde ich auf dem Rechtsweg bekommen haben.«