«Doch. Natürlich. «Der Sherry schmeckte süß und weich, besser als jeder, den ich bisher getrunken hatte.

Während wir tranken, betrachtete mich Colin mit unverwandtem Blick auf eine Weise, die mich bei einem anderen Mann verlegen und vielleicht ärgerlich gemacht hätte. Aber da es Colin war, den ich liebte, erwiderte ich mutig und offen seinen Blick.

«Leyla«, sagte er unvermittelt und stellte sein Glas nieder.»Seit Tagen versuche ich, einen Entschluß zu fassen, und jetzt bin ich so weit. Ich möchte mit dir reden.«

«Ja?«Seine Stimme klang plötzlich sehr ernst.

«Aber nicht hier. Ich möchte nicht, daß plötzlich jemand von der Familie hier auftaucht und uns stört. Und ich möchte auch nicht Angst haben müssen, daß wir belauscht werden. Gehst du mit mir an einen Ort, wo wir ungestört sind?«

Ich blickte in mein Glas. Es war leer.»Ja, natürlich, Colin.«

«Gut. «Er führte mich wieder nach oben. Von einem kleinen Tisch nahm er eine Kerze und entzündete sie an einer der Öllampen im Flur. Als er mich dann eine weitere Treppe hinaufführte, war ich verwundert, aber ich stellte keine Frage. Colin war ja bei mir; in seiner Begleitung fühlte ich mich sicher und beschützt.

Wir traten in einen dunkleren Flur, wo die einzige Lichtquelle unsere Kerze war, und ich ließ Colin meine Hand nehmen, um mich weiterzuführen. Als mir der Modergeruch in die Nase stieg, erinnerte ich mich, daß dies der Flur war, durch den ich in der Nacht vor Henrys Tod gelaufen war, als wir alle ihm zum Türmchen gefolgt waren. Ich atmete schneller. Mir war unheimlich in der beklemmenden Finsternis, aber ich dachte nicht an Umkehr. Ich war sicher, daß Colin gute Gründe hatte, mich hierher zu bringen.

Es wunderte mich schon gar nicht mehr, als wir vor dem kleinen Torbogen anhielten, hinter dem die Treppe zum Türmchen sich emporschwang. Dennoch schauderte ich bei der Erinnerung an jene Nacht. Colin beobachtete mich schweigend. Sein Gesicht war seltsam bleich im flackernden Schein der Kerze.

«Anders geht es nicht, Leyla«, sagte er leise.»Es tut mir leid. «Ich sah ihm aufmerksam in die Augen.

«Wir müssen vermeiden, daß wir belauscht werden, und Großmutter hat überall ihre Spitzel. Ist es sehr schlimm für dich, da hinaufzugehen?«Ich spähte hinauf, wo die schmale Treppe in der Dunkelheit verschwand. Colin hielt meine Hand sehr fest. Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen und schmeckte noch ein wenig Großmutters Sherry.»Ja. Aber ich kann verstehen, warum du dort hinauf willst. Was du mir sagen willst, ist wohl sehr wichtig?«

«Ja. Ich bin froh, daß du mir vertraust, Leyla. Ich hatte Angst, du würdest es nicht tun. Gehen wir?«

Mit der Kerze in der Hand ging er mir voraus, langsam eine Stufe um die andere nehmend. Meine Hand ließ er nicht los, hielt sie so fest, daß ich sie ihm nicht hätte entziehen können. Meine Neugier siegte über meine Angst. Was hatte Colin mir so Wichtiges mitzuteilen, daß dafür kein anderer Ort im Haus sicher genug war?

Oben angelangt, blieb ich einen Moment schaudernd stehen. Ich mußte mich unwillkürlich an Henrys wahnverzerrtes Gesicht und weit aufgerissene Augen erinnern. Colin stellte die Kerze auf den Steinboden, in sicherer Entfernung von meinen Röcken und doch so nahe, daß wir etwas Licht hatten. Das Turmzimmer war ein kleiner, runder Raum, klamm und kalt, mit einem Fenster, das zum nächtlichen Wald hinausblickte.»Von hier hat unser Großvater sich hinuntergestürzt«, bemerkte Colin und nahm nun auch meine andere Hand. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, seine Stimme war ohne Ausdruck.»Hast du mich hierher gebracht, um mir das zu sagen?«

«Nein, Leyla, das ist nicht der Grund, weshalb ich dich hierher gebracht habe. «Colins Stimme klang seltsam fern.»Zunächst wollte ich dir sagen, daß ich über das, was ich gleich tun werde, lange nachgedacht habe. Du sollst wissen, daß ich es nicht leichten Herzens tue. Es bewegt mich schon seit dem Morgen, an dem du uns gesagt hast, du hättest Thomas Willis’ Buch gelesen. Erinnerst du dich?«

«Ja, natürlich.«

«Du warst so sonderbar an dem Morgen, Leyla. Das hat mich sehr beunruhigt, und es hat mich seitdem eigentlich unablässig geplagt. Mehrmals war ich nahe daran, mit dir zu sprechen, aber dann habe ich es mir aus diesem oder jenem Grund immer wieder anders überlegt. Aber jetzt. «Seine Stimme war noch leiser geworden, kaum mehr als ein Flüstern, und er trat einen Schritt näher an mich heran. Ich sah ihn an wie hypnotisiert, erregt durch seine Nähe, gespannt darauf, was er mir zu sagen hatte. Als hätte er meine Gedanken gelesen, sagte er:»Ich werde es nicht länger aufschieben. «Er sah sich um, spähte angespannt in die Dunkelheit jenseits unserer kleinen Lichtpfütze.»Es darf uns niemand belauschen. Niemand darf wissen, daß wir hier oben sind, Leyla. Wenn du ein lautes Geräusch machen solltest, schreien solltest, darf niemand es hören.«

«Warum sollte ich schreien?«

«Es war nur ein Beispiel, um dir klarzumachen, wie wichtig es ist, daß wir ungestört sind. Ich glaube, hier sind wir sicher vor dem Rest der Familie. Ich habe dich absichtlich hier heraufgebracht, weil keiner erfahren darf, was hier vorgeht.«

«Colin, du weißt, daß ich dir vertraue.«

Ich hatte den Eindruck, daß er lächelte. Kein Geräusch war zu hören, nichts rührte sich außer den tanzenden Schatten, die unsere Kerze warf. Colin und ich waren ganz allein.

«Leyla. «Er drückte meine Hände noch fest.»Ich weiß, daß du mich bisher nicht gemocht hast und mir gewiß auch nicht getraut hast. Ich kann dir das nicht verübeln. Aber ich muß dich jetzt bitten, mir rückhaltlos zu vertrauen, ganz gleich, was geschieht.«

Ich war gebannt von seiner Stimme und seinem Blick.»Ja«, flüsterte ich.

«Dann verzeih mir, was ich jetzt tun werde. Ich fürchte, es wird schmerzhaft werden für dich.«

Ein wenig verwirrt antwortete ich:»Ich würde dir alles verzeihen, Colin.«»Gut. «Er ließ meine Hände los und umfaßte fest meine Schultern.»Ich bitte dich, noch einmal zu versuchen, dich an das zu erinnern, was vor zwanzig Jahren im Wäldchen geschah.«

«Was?«sagte ich verblüfft.

«Bitte, Leyla, auch wenn es vielleicht sehr schmerzhaft für dich ist, versuche, dich zu erinnern, was damals war.«

«Aber ich verstehe nicht. Warum denn?«

«Weil ich glaube, daß dein Vater ermordet wurde, und ich muß wissen, von wem.«

«Colin!«

«Ich weiß, was du denkst! Daß es sinnlos ist — «

«Nein, warte —!«

«Laß mich zu Ende sprechen, Leyla. «Seine Augen waren plötzlich sehr lebendig.»Ich habe nie geglaubt, daß dein Vater Hand an sich gelegt hat, aber ich konnte nichts beweisen. Und ich konnte nicht darüber sprechen, weil die ganze Familie mich haßt. Ich weiß, wie unglaubwürdig das für dich klingen muß, nachdem ich die ganze Zeit das Spiel der Familie mitgemacht habe und so getan habe, als wäre ich mit den anderen einig. Als du nach zwanzig Jahren plötzlich hier vor der Tür standest, war das für mich wie ein Geschenk des Himmels. Und als du sagtest, du wolltest dir deine Vergangenheit zurückerobern, schöpfte ich Hoffnung. Ich war von Anfang an auf deiner Seite, ich wartete sehnlichst darauf, daß du dich erinnern würdest. Aber als du dann plötzlich aufgabst, einfach die Waffen strecktest, weil du das Buch gelesen hattest, war ich verzweifelt. «Er sah mich flehend an, als er sagte:»Ich weiß, daß du kein Verlangen mehr hast, dich der Ereignisse zu erinnern, die du als Kind miterlebt hast, aber ich bitte dich, Leyla, versuche es noch einmal — mir zuliebe.«

«Colin, ich bin ganz verwirrt. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«»Du weißt jetzt, daß es die Erbkrankheit gibt, und du glaubst daran, daß dein Vater Selbstmord beging, nachdem er deinen Bruder getötet hatte. Warte, laß mich ausreden. Ich möchte, daß du wieder die wirst, die du warst, bevor du das Buch gelesen hattest; daß du noch einmal versuchst, dich zu erinnern. Ich glaube, daß dein Vater unschuldig war.«

«Und du hast das den anderen nicht gesagt?«

«Ich kann nicht, Leyla. Sie hören nicht auf mich. Sie — «

«Warum hassen sie dich, Colin?«fragte ich leise. Er starrte mich einen Moment an, dann ließ er plötzlich meine Schultern los, und seine Arme sanken herab.»Aus einem Grund, den ich dir schon längst hätte sagen sollen.«

«Was ist das für ein Grund?«

«Ich bin kein Pemberton, Leyla, jedenfalls nicht von Geburt. Mein leiblicher Vater war ein Mann namens Haverson, ein Schiffskapitän, der auf See ums Leben kam, als ich gerade geboren war. Etwa anderthalb Jahre später heiratete meine Mutter Richard Pemberton und brachte mich hierher.«

«Aber warum hassen sie dich dafür?«

«Weil ich den Tumor nicht zu fürchten brauche.«

«Ach, Colin — das kommt alles so plötzlich.«

«Sir John faßte damals, als ich ins Haus kam, eine ungewöhnliche Zuneigung zu mir. Er änderte sein Testament und setzte mich zum Alleinerben ein unter der Voraussetzung, daß Onkel Henry kein Testament machen sollte. Aber ich wußte nicht, daß er tatsächlich keines gemacht hatte, Leyla, das schwöre ich dir.«

«Ich glaube dir.«

Er sah mich an, als sähe er mich zum erstenmal.»Du glaubst mir?«

«Aber ja«, antwortete ich.»Wie merkwürdig, daß du mir gerade jetzt all diese Dinge erzählst.«»Willst du dann noch einmal versuchen, dich zu erinnern? Ich weiß, wie verwirrend es für dich sein muß — «

«Ach, das ist es nicht, Colin«, unterbrach ich ihn aufgeregt. Am liebsten hätte ich gelacht.»Das ist es nicht. Im Gegenteil, du kannst dir nicht vorstellen, wie erleichtert ich bin. Endlich kann ich dir alles sagen.«

«Was denn?«

«Alles, was ich herausgefunden habe und was ich bis jetzt für mich behalten mußte. Endlich kann ich mit dir darüber sprechen.«

«Dann hast du dich erinnert?«

«Nein, nein. Noch nicht. Ich will es aber, und nicht nur, weil du mich darum gebeten hast. Du weißt nicht, Colin, wie schrecklich es für mich war, alles mit mir allein herumtragen zu müssen.«

«Worum geht es denn? Was hast du herausgefunden?«Ich erzählte ihm alles. Ich berichtete ihm von meinem ersten Besuch bei Dr. Young, von der gefälschten Seite in Cadwalladers Buch, von meinen Gefühlen, meinem Zorn und meiner Erbitterung und von Dr. Youngs Überlegungen. Als ich von der tödlichen Dosis Digitalis berichtete, die Dr. Young in Henrys Blut festgestellt hatte, wandte Colin sich erschüttert von mir ab und schlug mit der Faust an die Steinmauer.

«Wie grauenhaft!«rief er.»Dann ist es also wirklich wahr, und ich habe die ganze Zeit recht gehabt.«

Eine ganze Weile starrte er hinaus in die Dunkelheit. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber ich hörte seinen schweren Atem und konnte mir vorstellen, was jetzt in ihm vorging.

«Aber dann — «begann er unsicher.»Der Tumor, Leyla. Der Tumor. «Er kam stockend einen Schritt auf mich zu.»Heißt das, daß er Lüge ist? Daß es die Krankheit der Pembertons gar nicht gibt?«

«Ja, Colin.«

«Mein Gott! Alles eine niederträchtige Lüge, eine gemeine Erfindung!«

«Ja.«

«Ich kann es nicht glauben«, flüsterte er.»Ich kann es einfach nicht glauben. Und ich wußte es nicht. «Er begann, in dem kleinen Turmzimmer hin und her zu gehen.»Es ist unfaßbar! Jahrelang glaubten wir alle daran. Und es ist nichts als Lüge. Jahrzehnte, Jahrhunderte. «Er schlug wieder an die Wand.»Sir John, Onkel Robert, Onkel Henry! Dann hatte ich also von Anfang an recht. Dein Vater wurde tatsächlich ermordet, Leyla. «Er drehte sich zu mir herum. Und plötzlich rief er freudig aus:»Dann — dann bist du ja frei, Leyla! Dann hast du nichts zu fürchten!«

«Ja.«

Ich kann nicht sagen, was dann geschah. Ich erinnere mich nur, daß ich plötzlich in Colins Armen lag, und er mich an sich drückte, als wollte er mich nie wieder loslassen. Und ich hatte das Gefühl, als hätte ich nie woanders hingehört, als sei ich endlich nach Hause gekommen. Ich spürte seine Wärme und seine Kraft, und sie sagten mir mehr als tausend Worte.

Lange standen wir so, dicht zueinander geschmiegt, und sprachen kein Wort.»Leyla, Liebste«, flüsterte Colin dann,»du weißt ja nicht, was ich ausgestanden habe. Diese letzten Tage — dich zu sehen, dich zu lieben und dabei zu wissen, daß du früher oder später das Opfer dieser grauenvollen Krankheit werden würdest. Oft habe ich dagesessen und dich nur angesehen und gedacht, ich könnte die Qual nicht ertragen. Ich war so verbittert, du kannst es dir gar nicht vorstellen.«

Er schob mich ein wenig von sich ab und strich mir über das Haar, während er mich ansah.»Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich sah keine Zukunft für uns. Es war schrecklich. Aber jetzt bist du frei, Leyla. Wir sind beide befreit von diesem schrecklichen Fluch, der über Generationen auf dieser Familie lag. Ach Leyla, meine Leyla!«