Voll Zärtlichkeit sah er mich an, doch plötzlich veränderte sich sein Gesicht, zeigte tiefe Verlegenheit. So plötzlich, wie er mich in seine Arme geschlossen hatte, ließ er mich jetzt los und wich zurück.»Guter Gott! Entschuldige, Leyla. Bitte verzeih’ mir. Ich habe völlig kopflos gehandelt. In meiner Glückseligkeit über das, was du mir gesagt hast, habe ich mich völlig vergessen. Ich muß mich für mein Benehmen bei dir entschuldigen und könnte es dir nicht einmal übelnehmen, wenn du mich jetzt ohrfeigst.«

«Weshalb sollte ich das tun?«Ich hätte gleichzeitig weinen und lachen können.

«Ich habe mich wie ein Flegel benommen und deine Schwäche ausgenützt. Aber glaube mir, ich war — «

Jetzt mußte ich wirklich lachen.»Ach, Colin, hör’ auf, dich zu entschuldigen. Wenn du den Kopf verloren hast, liebe ich dich dafür um so mehr.«

Er sah mich ungläubig an.

Ich war selbst erstaunt über mich — nicht über das, was ich gesagt hatte, sondern darüber, wie leicht es mir über die Lippen gekommen war.»Ich liebe dich wirklich, Colin«, sagte ich leise.

Wieder nahm er mich in seine Arme, und diesmal küßte er mich, leidenschaftlich und zärtlich zugleich, auf eine Art, wie nie zuvor ein Mann mich geküßt hatte. Nichts war mehr wichtig in diesem Augenblick, nur wir beide.

Sein Gesicht schien sich verändert zu haben; es war weicher, offener, als hätte sein ganzes Wesen in dieser kurzen Zeit sich gewandelt.»Ich kann nicht glauben, daß mir das geschieht«, sagte er vor Freude lachend.»Ich komme mir vor wie im Traum. Ich glaubte fest, ich würde mich niemals in meinem Leben verlieben, sondern bis ans Ende meiner Tage ein zynischer Junggeselle bleiben. Und dann kamst plötzlich du. «Er legte mir sacht eine Hand auf die Wange.»Erinnerst du dich noch an die ersten Worte, die du mit mir gewechselt hast? Du sagtest: >Tante Anna sagte mir, daß ich dich hier treffen würde und riet mir eine Begegnung mit dem exzentrischen Colin unter allen Umständen zu vermeiden. Offenbar befürchtete sie eine Katastrophe.««

«Ja, ich weiß. Ich war in schrecklicher Verlegenheit.«

«Du hättest dein Gesicht sehen sollen! Das werde ich nie vergessen. Ich hätte nie geglaubt, daß jemand gleichzeitig rot und blaß werden kann.«

«Ach, Colin!«Er zog mich wieder an sich und drückte mich so fest, daß ich kaum luftholen konnte.»Ich lasse dich nie wieder fort«, sagte er.»Vor zwanzig Jahren bist du spurlos aus meinem Leben verschwunden, aber jetzt bist du zurück und wirst für immer bei mir bleiben. Nichts kann uns mehr trennen, Leyla.«

Ich war glücklich. Colin gefunden zu haben, war für mich das Ende eines Alptraums. Mit Colin an meiner Seite brauchte ich nichts mehr zu fürchten, brauchte ich die Last meines Wissens nicht mehr allein zu tragen.»Ich frage mich, welches gute Werk ich in der Vergangenheit getan habe«, sagte Colin mit einem leisen Lachen,»daß Gott dich plötzlich zu mir schickte.«

Diese Worte holten mich mit einem Schlag in die Wirklichkeit zurück.»Es war kein Zufall, Colin, daß ich hierher kam. Ich kam aufgrund eines Briefes.«

«Aufgrund eines Briefes?«Colin ließ mich aus seinen Armen, hielt aber weiter meine Hände fest, während ich ihm von dem Brief berichtete, der uns kurz vor dem Tod meiner Mutter in London erreicht hatte.»Er war von Großtante Sylvia unterzeichnet«, erklärte ich,»aber hier entdeckte ich, daß sie den Brief in Wirklichkeit gar nicht geschrieben hatte. Ich sah an ihrem Tagebuch, daß es nicht ihre Handschrift war.«

«Aber das verstehe ich nicht«, versetzte Colin verblüfft.»Du meinst, dich hat tatsächlich jemand hierhergelockt? Aber warum ausgerechnet unter Tante Sylvias Namen?«

«Ich vermute, weil sie damals schon im Sterben lag, und der Briefschreiber sich deshalb gut hinter ihr verstecken konnte. Er wollte seinen Namen nicht preisgeben, und jetzt, da ich hier bin, tut er so, als wünsche er meine Abreise. Aber wer kann das sein, Colin?«

Er überlegte.»Du mußt mir den Brief zeigen. Vielleicht erkenne ich die Schrift. Trotzdem verstehe ich das nicht: Warum soll dich jemand hierherlocken und sich dann nicht zu erkennen geben?«

«Das weiß ich auch nicht. Aber das ist noch nicht alles, Colin«, sagte ich dann.»Von dem Tag an, als ich Thomas Willis’ Buch gelesen hatte, bekam ich plötzlich jeden Tag Kopfschmerzen. Nachdem Dr. Young mir erklärt hatte, daß Onkel Henry mit Digitalis vergiftet worden war, bekam ich Angst, und darum habe ich heute heimlich eine Probe von meinem Frühstückstee zu Dr. Young zur Analyse gebracht.«

«Und?«fragte Colin heiser.»Er hat Spuren des Gifts darin gefunden.«

«Nein! Mein Gott, Leyla, ich muß dich sofort von hier wegbringen.«

«Colin — «

«Das ist ja unfaßbar. Und ich ahnte nicht einmal, was hier im Haus vorging. Ich bin nur mit dir hier heraufgekommen, um dich zu bitten, doch noch einmal zu versuchen, deinen Erinnerungen auf die Spur zu kommen. Ich dachte, du würdest mir widersprechen, meine Vermutungen für lächerlich erklären, bestenfalls widerstrebend auf meinen Vorschlag eingehen. Statt dessen höre ich all diese grauenvollen

Tatsachen von dir. Leyla!«Er faßte mich wieder bei den Schultern.»Du mußt von hier weg. Geh sofort nach London zurück.«

«Nein, Colin«, widersprach ich ruhig.

«Es ist nicht nötig, daß du dich in Gefahr begibst. Ich werde das hier allein lösen, und wenn alles geklärt ist, komme ich dir nach — «

«Nein, Colin. Ich muß hier bleiben.«

«Das kann ich nicht zulassen«, sagte er zornig.

«Aber ich kann von hier nicht weggehen. «Ich sprach ruhig, aber bestimmt.»Wir wissen so viel, Colin, und doch wissen wir das Entscheidende nicht. Wir wissen nicht, wer der Mörder ist. Wenn wir es je erfahren wollen, muß ich mich erinnern, was damals im Wäldchen geschehen ist. Und das kann ich nur hier, nicht in London.«

Colin war sehr aufgeregt, doch er wußte keinen Ausweg. Er konnte die Wahrheit dessen, was ich gesagt hatte, nicht leugnen, hatte aber große Angst um mich.

«Solange der Mörder glaubt, ich wüßte nicht, daß ich langsam vergiftet werde, bin ich nicht in Gefahr«, sagte ich.»Ich muß einfach meine Rolle weiterspielen, Kopfschmerzen und Übelkeit vortäuschen, bis es mir gelingt, mich an alles zu erinnern. Nur wenn der Mörder merkt, daß ich seinen Plan entdeckt habe — «

«Oder ihren.«

«— bin ich in Gefahr. Wenn er — oder sie — nichts merkt, haben wir Zeit.«

Ich hörte Colins schweren Atem. Unsere kleine Kerze war so weit abgebrannt, daß sie kaum noch Licht spendete.

«Wieviel Zeit?«fragte er angstvoll.»Bei deinem ersten Besuch im Wäldchen hast du dich an gar nichts erinnert. Wie oft wirst du noch zurückgehen müssen?«

Ich überlegte mir meine Worte, ehe ich antwortete.»Doch, an eine Kleinigkeit habe ich mich erinnert, ich habe dir nur nichts davon gesagt. Als ich da unten ganz allein unter den Bäumen stand, hatte ich plötzlich ein flüchtiges, aber sehr deutliches Bild.«

«Wovon?«

«Es kann sein, daß es mit den Geschehnissen von damals nichts zu tun hat — «

«Aber es kann auch ungeheuer wichtig sein. Woran hast du dich erinnert?«

«Ich sah plötzlich den Rubinring, der Theo gehört. «Ich merkte, wie Colin erstarrte.»Den Ring?«sagte er tonlos.»Das ist merkwürdig.«

«Das fand ich auch. Er hat wahrscheinlich mit dem Tod meines Vaters gar nichts zu tun, und trotzdem erinnerte ich mich seiner, als ich im Wäldchen stand. Ich hätte wahrscheinlich überhaupt nichts darauf gegeben, wäre der Ring nicht kurz danach verschwunden.«

«Ich bin sicher, das ist nur ein Zufall«, sagte er wenig überzeugend. Obwohl ich sein Gesicht nicht sehen konnte, hatte ich das deutliche Gefühl, daß Colin stark beunruhigt war.»Darf ich dich etwas fragen?«Er nickte.

«Wieso warst du eigentlich so sicher, daß mein Vater unschuldig war? Wieso hast du nicht, da du doch auch an die Krankheit glaubtest, die allgemeine Erklärung hingenommen? Hast du an der Geschichte von dem Tumor gezweifelt?«

«Nein. Ich glaubte genauso daran, wie alle anderen. Und ich glaubte wie alle anderen, daß Sir John und sein Bruder von der Krankheit in den Wahnsinn getrieben worden waren. Aber bei deinem Vater konnte ich nicht daran glauben.«

«Warum nicht, Colin?«

Er schien einen Moment zu brauchen, um seine Worte zu bedenken, dann sagte er:»Du warst an dem Tag, an dem dein

Vater und dein Bruder starben, nicht der einzige Beobachter im Wäldchen. Es war noch jemand da.«

«Wer?«

«Ich.«

Im ersten Moment war ich sprachlos.»Du?«sagte ich dann ungläubig.

«Ja. Ich war auch im Wäldchen, Leyla. Ich war dabei, als dein Vater und Thomas getötet wurden.«

«Dann hast du alles gesehen?«

«Nein, das nicht. «Er sprach hastig.»Ich streifte in der Nähe im Wald herum, als ich Thomas aufschreien hörte. Da ich glaubte, er hatte sich wehgetan, rannte ich sofort in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war, aber ich kam zu spät. Als ich ins Wäldchen eindrang, sah ich dich im Gebüsch stehen. Du hattest einen ganz fremden Ausdruck auf dem Gesicht. Dann hörte ich ein dumpfes Geräusch, als sei jemand zu Boden gestürzt, und als ich mich umdrehte, sah ich deinen Vater neben deinem Bruder auf dem Boden liegen. Zur gleichen Zeit hörte ich es ganz in der Nähe rascheln und wußte sofort, daß da jemand davonlief. Ich rannte hinterher, aber ich konnte nicht sehen, wer es war.«

«Und das war der Mörder!«

«Ja, aber ich habe nur noch eine undeutliche Gestalt und die Bewegung der Äste an den Bäumen gesehen.«

«Hast du denn mit niemandem darüber gesprochen?«

«Mit wem hätte ich denn darüber sprechen können, Leyla? Ich war vierzehn Jahre alt und zu Tode geängstigt. Ich hatte zum erstenmal in meinem Leben einen Toten gesehen. Ich war tief erschrocken. An wen hätte ich mich wenden können? Ich wußte nur, daß jemand auf Pemberton Hurst zwei Morde begangen hatte. Woher hätte ich wissen sollen, daß die Person, der ich mich anvertraute, nicht selbst der Mörder war und mich ebenfalls töten würde, wenn sie hörte, was ich wußte? Mit wem hätte ich reden dürfen, Leyla? Sag mir das. Zwanzig Jahre lang habe ich mit diesem furchtbaren Geheimnis gelebt, saß Abend für Abend mit der ganzen Familie beim Essen und fragte mich immer wieder, wer von ihnen es gewesen war.«

«Ach, Colin«, sagte ich in tiefem Mitgefühl.

«Und dann standest plötzlich du vor der Tür wie ein rettender Engel.«

«Aber warum hast du mir das alles nicht schon viel früher erzählt?«

«Das konnte ich nicht, Leyla. Du trautest mir nicht. Ich konnte nicht erwarten, daß du mir glauben würdest. Ich wollte, daß die Erinnerung von selbst kam, unbeeinflußt von dem, was ich dir hätte erzählen können. Ich drängte dich ein wenig, gab dir ein paar Anhaltspunkte, aber ich konnte dir doch nicht alles erzählen, sonst hättest du vielleicht meine Schilderungen verwechselt und sie für Erinnerungen gehalten. Sag ehrlich, Leyla, hättest du mir denn damals getraut?«

«Ich — ich weiß es nicht. Es ist alles so unglaublich, Colin. Wer kann es getan haben? Hast du denn gar keinen Verdacht?«

«Verdächtig ist im Grunde jeder. «Er wandte sich von mir ab und begann wieder, auf und ab zu gehen.»Ich habe nächtelang wachgelegen und gegrübelt. Beweggründe gab es für jeden genug. Mein eigener Vater oder Onkel Henry konnten es getan haben, um ihren Anteil am Erbe zu vergrößern. Aber Henry kann es nicht gewesen sein, denn er ist jetzt selbst tot. Und mein Vater kann es nicht gewesen sein, denn er kam vor vielen Jahren ums Leben, und seitdem hat es zwei weitere Todesfälle gegeben.«

«Die drei Söhne Sir Johns waren Opfer und nicht Täter. Aber hast du mal an Theo gedacht? Könnte er einen Grund haben?«Colin blieb plötzlich stehen.»Theo? Leyla, gerade ihm mußte der Tod deines Vaters sehr gelegen kommen. Aber das weißt du ja nicht.«

«Aber warum?«

«Theo liebte deine Mutter. «Ich wich einen Schritt zurück.»Was?«

«Theo war damals achtzehn«, erzählte Colin,»und deine Mutter fünfundzwanzig. Sie war eine sehr schöne Frau. Theo gab sich überhaupt keine Mühe, seine Gefühle für sie zu verbergen. Und er zeigte auch offen seine Bitterkeit darüber, daß er sie nicht haben konnte. Theo haßte deinen Vater, Leyla, und alle wußten es.«

«Wie seltsam. «Ich dachte an den Abend vor fast einer Woche, als Theo in mein Zimmer gekommen war. Mir war sofort aufgefallen, wie ungewöhnlich er sich verhielt. Ich wußte noch, daß ich den Eindruck gehabt hatte, er sähe gar nicht mich, sondern eine andere. Jetzt hatte ich die Erklärung.

«Und Tante Anna war eine Mutter jener Art, die allen Fehlern ihrer Söhne gegenüber blind sind. Vielleicht meinte sie, Theo solle Jennifer ruhig haben. Vielleicht hegte sie aus unbekannten Gründen einen Groll gegen deinen Vater. Es ist möglich, daß auch Tante Anna das Erbe ihres Mannes vergrößern wollte und darum deinen Vater tötete.«