«Nein, bitte — «stieß ich hervor, aber dieser unglaublich starke Arm drückte mir die Luft ab.

Das Messer schwang hoch, hell blitzend vor dunklen Baumwipfeln und grauem Himmel, und sauste zu mir herunter.

Jemand schrie laut auf. Ich hörte Keuchen und Stöhnen. Das Messer, das mich hätte treffen müssen, fiel zu Boden. Ich drehte mich blitzschnell um und sah Colin in tödlichem Kampf. Schon kamen die anderen. Und dann war es vorbei.

Meine Großmutter lag auf ihrem Bett. Ihr Atem ging röchelnd. Ihr Gesicht war aschgrau, die Augen mit den stark geweiteten Pupillen wirkten übergroß. Dr. Young, der Augenblicke zuvor eingetroffen war, stand stumm und aufmerksam an ihrem Bett. Auch er war erstaunt gewesen über die Körperkräfte, die sie gezeigt hatte.

Irgendwo im Zimmer sagte jemand immer wieder:»Es ist nicht zu fassen. Ich kann es nicht glauben. «Es war Theo, der auf der anderen Seite des Zimmers in einem Sessel zusammengesunken war und, die Hände vor dem Gesicht, unentwegt den Kopf schüttelte. Anna saß ihm gegenüber, totenbleich und wie versteinert. Martha stand neben Dr. Young, Colin und mir — auf der anderen Seite des Bettes — gegenüber. Ihr Gesicht drückte nichts als kindliche Verwunderung aus. Es war beinahe so, als hätte sie die Ereignisse der vergangenen Stunde noch gar nicht begriffen. Und Colin. Colin, der mir das Leben gerettet hatte. Er stand jetzt dicht an meiner Seite, den Arm um mich gelegt, und ich war froh, daß er mir Halt gab.

Tonlos stieg die Stimme meiner Großmutter vom Bett auf.»Verdammt«, flüsterte sie.»Ihr seid alle verdammt. Es muß ein Ende sein. «Dr. Young neigte sich ein klein wenig zu ihr hinunter und fragte leise:»Wessen muß ein Ende sein, Mrs. Pemberton?«

Obwohl meine Großmutter zu Tode erschöpft war, blitzten in ihren schwarzen Augen noch Feuer und Leben.

«Es muß ein Ende haben mit den Pembertons. Es hätte schon lange ein Ende haben müssen. Aber keiner von ihnen hatte den Mut, ein Ende zu machen. Ein Teufelsfluch lastet auf der Familie und er wird immer weitergegeben werden, solange nur ein einziger Pemberton lebt. «Colin beugte sich näher zu ihr.»Du wolltest die Familie ausrotten? Wegen der Krankheit?«

«Ich mußte es tun. Zu viele haben unter diesem Fluch gelitten. Jahrhundertelang — «

«Und Onkel Henry?«Er trat von mir weg und ging näher ans Bett.»Hast du ihn auch getötet?«

«Ich mußte es tun. Er war ein Pemberton. «Mein Blick huschte zu Dr. Young.

«Wußte Sir John«, fragte Colin weiter,»daß du Robert und Thomas getötet hattest?«

Die schwarzen Augen waren zur Zimmerdecke gerichtet, ihr Mund war geöffnet, sie hatte Mühe zu atmen.»Ich — ich kann wohl jetzt alles sagen«, stieß sie hervor.»Ja, Sir John wußte es. Henry, Thomas, Robert und auch — Richard.«

Colin erstarrte.»Meinen Vater auch? Wie meinst du das?«Einen Moment lang schloß sie die Augen.»Großmutter, was meintest du, als du sagtest, Richard auch?«Langsam schlug sie die Augen wieder auf.»Der Unfall war kein Unfall. Er war herbeigeführt.«

«Mein Gott!«

«Colin«, sagte sie in flehendem Ton, und ihre knochigen Hände griffen suchend in die Luft.»Colin, hör mir zu. Setz dich zu mir und hör mir zu.«

Colins Gesicht war bleich und tieftraurig, als er sich zu ihr auf den Bettrand setzte und zu ihr hinuntersah. Sie sprach stockend, aber sie war völlig klar.»Diese schreckliche Krankheit hat zuviel Leid verursacht, Colin. Es muß ein Ende haben damit. Seit Jahren versuche ich, das Ende herbeizuführen. Du bist kein Pemberton, doch du trägst unseren Namen. Daher sollst du das Familienvermögen erben und dafür sorgen, daß der Name Pemberton erhalten bleibt. Das ist der Grund, weshalb ich Henrys Testament vernichtet habe. Er wollte alles Theo hinterlassen, und das konnte ich nicht dulden. Du mußtest erben, Colin — kein Pemberton und doch ein Pemberton. Du bist ein neuer Anfang für die Familie.«

«Aber das ist doch verrückt!«rief er.

«Du hältst mich für verrückt? Ich habe meine drei Söhne getötet, damit du Alleinerbe werden konntest. Damit durch die Krankheit nicht weiteres Leid entsteht. Ich habe meine drei Söhne getötet, damit zukünftige Generationen nicht wie heute Martha und Theo in Angst und Schrecken leben müssen. Sieh sie dir doch an! Erbarmungswürdige Kreaturen! Keinem Menschen ist ein solches Leben zu wünschen.«

«Aber die Krankheit existiert nicht, Großmutter«, sagte Colin. Er nahm ihre Hände und zog sie an seine Brust.»Die Krankheit war Erfindung. Ein Schwindel!«

«Nein, nein«, entgegnete sie mit Entschiedenheit.»Sir John wollte mich das auch glauben machen, aber ich habe ihm das nicht geglaubt. Er behauptete, sein Bruder Michael sei geistig verwirrt gewesen und habe einen ausgeklügelten Plan entwickelt, um das Haus und das Vermögen an sich zu bringen. Die Sache war aufgrund seiner Verrücktheit ungeheuer kompliziert; Sir John sagte, er hätte einen Familienfluch erfunden und versucht, das durch einen gefälschten Beweis zu untermauern. Ja, mein Mann hatte die Stirn, zu behaupten, Michael — «Sie schnappte krampfhaft nach Luft —»Michael hätte in seinem Wahnsinn die Geschichte von dem unheilbaren Tumor erfunden und hätte dann John und ihre gemeinsame Mutter töten wollen. Michael glaubte, wie John mir erzählte, die Behörden würden jeden Mordverdacht gegen ihn fallenlassen, wenn er sie davon überzeugen könnte, daß es aufgrund einer Gehirnkrankheit zu den beiden Todesfällen gekommen sei. Doch mein Mann entdeckte den Plan, jedenfalls behauptete er das mir gegenüber, und drehte den Spieß um. Zwei Menschen wurden getötet — Michael und seine Mutter. Als John sah, was er getan hatte, hielt er die Geschichte von dem Gehirntumor aufrecht, um der Strafe zu entgehen. Man glaubte ihm, und es wurde amtlich festgestellt, daß die beiden Opfer im Wahnsinn als Folge eines Gehirntumors umgekommen seien. Das hat mir dein Großvater am Abend vor seinem Tod erzählt. «Sie hielt inne, um Atem zu holen. Sie röchelte schrecklich. Wir alle starrten sie mit einer Mischung aus Entsetzen und Staunen an, während wir darauf warteten, daß sie fortfahren würde.

«Ich habe Robert und den kleinen Thomas im Wäldchen getötet, weil ich die Familie ausrotten wollte«, berichtete sie keuchend.»Ich mußte Robert töten, ehe er noch mehr Kinder in die Welt setzte. Und ich mußte den kleinen Thomas töten, weil er eines Tages das unglückselige Erbe an seine Kinder weitergegeben hätte. Ich — ich hätte auch die — die kleine Leyla getötet, wenn ihre Mutter nicht spurlos mit ihr verschwunden wäre.«

Ich schluchzte auf.

«John, mein Mann, wußte, was ich getan hatte«, fuhr sie unter großer Anstrengung fort,»aber er schwieg, weil er mich liebte. Doch eines Tages sagte ich ihm, daß ich auch — Richard töten müsse — und natürlich Henry und Theo. und da. «Sie fuhr sich mit der Zunge über die aufgesprungenen Lippen.»Da erzählte mir John diese erfundene Geschichte von Michaels Plan, aber ich durchschaute ihn. Ich wußte, daß er sie sich ausgedacht hatte. Er sagte, er würde das nicht dulden — würde zur Polizei gehen. da habe ich ihn vergiftet und vom Turm gestoßen. John war ein Narr. Er glaubte nicht an die Krankheit. Aber es gibt sie! Es gibt sie!«Sie begann zu husten.

«Großmutter. «Colin beugte sich tief zu ihr hinunter und legte seine Hand auf ihre Schulter.»Großmutter«, sagte er noch einmal mit fester Stimme.»Die Krankheit gibt es nicht. Sir John hat dir die Wahrheit gesagt. Michael hatte sie sich wirklich nur ausgedacht. «Aber sie schien ihn nicht zu hören.

«Dann bekam ich heraus, wo Jenny und Leyla waren und daß Leyla heiraten wollte. Das konnte ich nicht zulassen. Sie hätte Kinder bekommen und den Fluch weitergegeben. Darum lockte ich sie mit dem Brief hierher — «

«Du!«flüsterte ich.

«Und um sicherzugehen, daß Leyla bleiben würde, als sie einmal hier war«, fuhr sie fort,»befahl ich ihr immer wieder mit allem Nachdruck, von hier fortzugehen. Ach, wie gut ich die Menschen kenne!«Ich senkte den Kopf und hielt die Tränen zurück. Die Haut um Augen und Lippen meiner Großmutter nahm einen bläulichen Schimmer an.

«Diese Leyla — ein so störrisches und hartnäckiges Ding! Sie wollte diesem Bräutigam in London einen Brief schicken. Aber ich fing ihn ab und verbrannte ihn. «Ich hob den Kopf und sah Colin an. Aber er schien weit entfernt.

«Und der Ring?«fragte ich.»Was ist mit dem Rubinring?«

«Der Ring?«wiederholte meine Großmutter flüsternd, beinahe am Ende ‘ ihrer Kraft.»Er gehörte Richard. Ich fürchtete, man könnte die Geschichte, daß Robert zuerst seinen Sohn und dann sich getötet hatte, nicht glauben. Einen Beweis hinterlassen, dachte ich, damit ein anderer in Verdacht kommt. «Sie sprach jetzt zusammenhanglos.»Richard merkte nicht, daß der Ring weg war. Auf den Boden geworfen. Er sollte später gefunden werden. «Sie runzelte angestrengt die Stirn.»Aber Colin — hob ihn auf. War sowieso nicht gut. Alle glaubten Roberts Wahnsinn. Ring war überflüssig.«

Während meine Großmutter weiter vor sich hinmurmelte, sah ich wieder zu Colin, der plötzlich zu Tode erschöpft aussah.»Mein Vater trug diesen Ring«, sagte er so leise, daß nur ich ihn hörte.»Ich fand ihn in einer Blutlache und glaubte, mein Vater hätte die Morde begangen. Ach, Leyla.«

Ich neigte mich zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. Am liebsten hätte ich geweint.»Du wolltest ihn schützen«, flüsterte ich.»Verdammt!«kreischte meine Großmutter plötzlich mit schriller Stimme. Nichts war geblieben von der Tyrannin, die in diesem Haus mit harter Hand geherrscht hatte. Meine Großmutter war nur noch eine vom Tod gezeichnete alte Frau.»Ich habe kommende Generationen vor Schmerz und Leid bewahrt, indem ich die Familie der Pembertons auslöschte. Ich habe Gutes getan. «Sie wälzte den Kopf auf dem Kissen hin und her.»Jetzt sind sie alle tot. Auch Leyla wird bald tot sein. Und Martha. «Ihre Stimme klang blechern.»Martha brauche ich nicht zu vergiften. Sie wird niemals heiraten. Sie ist über das Alter hinaus. Sie findet keinen Mann mehr. Da ist nichts zu fürchten. Martha kann ruhig hier weiterleben, zusammen mit Colin, und — und — «

«Du widerwärtiges altes Frauenzimmer«, schrie Martha plötzlich außer sich.»Du hast mein Leben auf dem Gewissen. Ich wollte lieben, heiraten und Kinder bekommen. Aber du, du egoistische alte Frau, du hast es mir nicht erlaubt. Ich war dumm! Dumm! Ich hätte längst fortgehen sollen, als ich noch jung war und — «

«Aber die Krankheit!«

«Ich pfeife auf die Krankheit. Wenn ich daran sterben soll, dann werde ich eben daran sterben. Aber vorher wollte ich leben! Aber du, du Hexe, du hast mich zur Verzweiflung getrieben, du hast mich zum Diebstahl gezwungen — «Martha brach ab und sah plötzlich mich an.»Ja, zum Diebstahl!«schrie sie mich an.»Glaubst du vielleicht, es hat mir Spaß gemacht, wie eine Nonne zu leben, Leyla? Ich bin zweiunddreißig Jahre alt. Ich bin eine alte Jungfer. Und Großmutter hätte mir keinen Penny gegeben, wenn ich dieses Haus verlassen hätte. Darum mußte ich stehlen, um genug Geld für eine Flucht zusammenzubringen. Was hätte ich denn sonst tun können? Ich bin eine alleinstehende Frau. Ich habe keinen Mann, der mich beschützt und für mich sorgt. Was meinst du wohl, wie weit ich ohne Geld gekommen wäre? Darum habe ich gestohlen. Ja, ich habe meine eigene Familie bestohlen.«

Mit diesen Worten packte sie den Pompadour, der zu ihren Füßen stand und schleuderte ihn aufs Bett. Er öffnete sich, und Garn und Wolle, lange und kurze Nadeln fielen heraus, aber auch der falsche Boden, unter dem die Schätze verborgen waren, die sie gehortet hatte.»Da habt ihr alles«, rief sie laut und heftig.»Das Geld und den Schmuck. Es hätte mir fast gereicht, um mich in London als Frau von Stand niederzulassen, und dann wäre ich endlich frei gewesen und — «

«Martha!«flüsterte unsere Großmutter mit schwacher Stimme.»Die Krankheit — «

«Es ist mir gleich, ob es die Krankheit gibt oder nicht«, schrie Martha, der jetzt die Tränen aus den Augen strömten.»Glaubst du denn, ich bin freiwillig wie eine Gefangene in diesem Haus geblieben? Ich habe nur auf den rechten Augenblick gewartet, Großmutter. Ich gehe weg von hier!«

«Aber Martha — «

Ihren geheimen Schatz an Schmuck und Geld, der ihr die Tür zu einem freundlicheren Leben hätte öffnen sollen, zurücklassend, stürzte Martha aus dem Zimmer.

Wir anderen waren alle noch viel zu bestürzt über die Enthüllungen der letzten Stunde, um sprechen zu können.

Meine Großmutter hatte mich also hierher gelockt, um mich zu töten. Sie hatte mir Thomas Willis’ Buch ins Zimmer gelegt. Zwanzig Jahre lang hatte in Pemberton Hurst eine Wahnsinnige und eine Mörderin geherrscht.

«Ich habe es für die Pembertons getan«, murmelte sie kaum vernehmbar aus der Tiefe der Kissen.»Ich habe es getan, weil ich Pemberton Hurst liebe. Ich liebe es mehr als mein eigenes