«Sie hat hier aber auch sehr Schlimmes erlebt«, warf Colin ein.»Es ist schon merkwürdig, daß Leyla keinerlei Erinnerungen hat. Was meint ihr, woher das kommt?«

«Viele Menschen haben keine Erinnerungen an ihre frühe Kindheit«, behauptete Henry, der breitbeinig, die Hände auf dem Rücken, vor dem Kamin stand.

Ich sah keinen Grund, es ihnen länger zu verheimlichen.»Das war einer der Gründe, warum ich schließlich hierher gekommen bin — um die Erinnerung an meine frühen Jahre wiederzufinden. Ich glaubte, das Wiedersehen mit euch und dem Haus würde mir dabei helfen.«

«Und hat es geholfen?«fragte Anna beinahe ängstlich.»Nicht sehr. Das Haus ist mir gänzlich unvertraut. Und auch ihr seid mir fremd.«

«Aber an mich hast du dich erinnert.«

«Ja, Martha, als du in die Bibliothek kamst, sah ich dich plötzlich, wie du vor zwanzig Jahren warst.«

«Zwölf Jahre alt und zu groß für mein Alter.«

«Ja, aber du warst damals schon so hübsch wie heute.«

«Und sonst erinnerst du dich an keinen von uns?«fragte Anna. Ich vermied es, Henry anzusehen.»Nein, an keinen. Ab und zu blitzt mal etwas auf. Es ist als ob ein Vorhang sich öffnet und gleich wieder zufällt. Nie wird der Eindruck greifbar.«

«Ich wette, wenn du morgen bei Großmutter bist, wirst du dich an einiges erinnern. Du hattest immer große Angst vor ihr.«

«Wer hat die nicht?«fragte Colin.

Anna neigte sich etwas näher zu mir.»Hast du denn deine Mutter nie nach der Vergangenheit gefragt?«

«Doch, sehr oft sogar, zumindest am Anfang. Aber sie antwortete entweder gar nicht oder nur ausweichend. Nach einer Weile begriff ich, daß ich nicht fragen sollte, und tat es nicht mehr. Ich bin froh, daß ich sie nicht gedrängt habe; es hätte sie nur gezwungen, mir noch mehr Lügen zu erzählen. Sie wollte mich schützen.«

«Und was glaubst du, wovor sie dich schützen wollte?«fragte Colin in herausforderndem Ton. Er fing an, mir auf die Nerven zu gehen. Zum Glück kam in diesem Moment Gertrude mit dem Tablett ins Zimmer. Anna half ihr, den kleinen Tisch zu decken, der neben meinen Sessel geschoben wurde. In stillschweigender Übereinstimmung zogen die drei Männer sich aus dem Salon zurück; Martha zog eine Stickerei aus ihrem Pompadour und war bald in ihre Arbeit vertieft, während Anna nachdenklich an meiner Seite sitzenblieb.

Es wurde ein ruhiger, friedlicher Abend. Die nagenden Zweifel, die mir immer wieder in den Sinn kamen, unterdrückte ich. Ich hatte nur den Wunsch, wieder zu dieser Familie zu gehören, wie ich offensichtlich früher zu ihr gehört hatte.

Nach meinem Abendessen kehrten die Männer in den Salon zurück, und Martha spielte für uns etwas auf dem Klavier. Ehe wir uns danach alle zurückzogen, erinnerte mich Colin an mein Versprechen, ihn am folgenden Tag bei einem Rundgang über das Grundstück zu begleiten. Ich bedauerte jetzt, zugesagt zu haben, aber mit Henry oder mit Theo, dessen tadellose Wohlerzogenheit sehr abweisend auf mich wirkte, wäre ich auch nicht lieber gegangen.

Ich nahm den Führer durch den Cremorne Park mit zu Bett und gab mich Gedanken an Edward hin. Ich rief mir unsere erste Begegnung ins Gedächtnis, die vielen schönen Stunden, die wir seitdem miteinander verbracht hatten. Edward war ein wunderbarer Mann, ich konnte mich glücklich preisen, daß er mich gewählt hatte. Doch in der Nacht träumte ich von Colin Pemberton.

Als ich am folgenden Morgen erwachte, heulte ein derartiger Wind ums Haus, daß die Bäume unter seiner Gewalt ächzten und seufzten. Beim Frühstück war die ganze Familie versammelt, es herrschte eine Atmosphäre allgemeinen Wohlwollens, die mir guttat und mich dem traurigen Nachdenken über das Schicksal meines Vaters und meines Bruders entriß.

Martha und Anna wollten zusammen mit Henry, der die Fabrik aufsuchen wollte, nach East Wimsley fahren. Sie machten diese Fahrt gewöhnlich zweimal im Monat, um dem Pastor ihre Aufwartung zu machen und ihm Kleider für die Armen zu spenden. In East Wimsley gab es, wie ich ihren Gesprächen entnahm, sehr viel Armut und eine große Arbeitersiedlung.

«Wenn die Pembertons nicht wären«, bemerkte Henry bei Toast und Marmelade,»hätten diese Leute nicht einmal Arbeit. Sie würden wie so viele andere dem allgemeinen Exodus in die Großstädte und die übervölkerten Elendsviertel folgen. Wir müssen dafür sorgen, daß die Bauern auf dem Land bleiben können, dort, wo sie hingehören.«

«Es kommt nur von der Eisenbahn, Vater«, bemerkte Theo, der stets ängstlich darauf bedacht schien, genau das Richtige zu sagen.»Vor der Dampfmaschine konnten die Bauern gar nicht weg. Jetzt können sie jederzeit für einen Penny die Meile mit der ganzen Familie und ihrer Habe gehen, wohin sie wollen. Darum ist es auch in London so schlimm geworden.«

«So schlimm ist es in London gar nicht«, warf ich ein.»Natürlich ist es dort schrecklich laut, immer mehr Menschen drängen in die Stadt. Aber wir haben die besten Krankenhäuser der Welt.«

«Ach, was! Die würden wir gar nicht brauchen, wenn die Städte sauberer wären. «Damit war mein Einwand für Henry erledigt. Es lag auf der Hand, daß die Meinung einer Frau für ihn nicht zählte.»Leyla, mein Kind«, mischte sich Anna ins Gespräch,»hast du denn für dieses schreckliche Wetter auch die richtige Kleidung mitgebracht? Ich denke, du hast etwa Marthas Größe, und ich — «

«Danke, Tante Anna. Ich habe Garderobe genug. Ich habe gelernt, bei Kleidung mehr auf Nützlichkeit als Eleganz zu achten.«

«Man kann beides haben. «Sie betrachtete mein Kleid, und ich sah ihr an, daß sie es recht armselig fand.»Ich komme schon zurecht, vielen Dank.«

Zum erstenmal schaltete sich Colin ein.»Ich glaube, Tante Anna meint, daß du jetzt, da du wieder zur Familie gehörst, du dich auch kleiden solltest wie eine Pemberton.«

«Ach ja, schneidern wir doch ein paar neue Kleider für dich, Leyla«, rief Martha.»Das würde mir Spaß machen.«

Colin beobachtete mich gespannt. Ich konnte mir ganz gut vorstellen, was er dachte: Die gute Cousine ist in den Schoß der Familie zurückgekehrt, um an ihrem Wohlstand teilzuhaben und ein luxuriöses Leben zu führen.

«Das ist wirklich lieb von dir, Martha, aber wenn ich heirate, lasse ich mir sowieso eine neue Garderobe machen.«

«Ach, natürlich!«Martha wurde noch lebhafter.»Und die Hochzeit findet hier, in Pemberton Hurst, statt.«

«Was?!«rief Henry scharf.

«O nein«, protestierte ich.»Das hatte ich nicht vor. Ich wollte nur eine kleine Feier in der Kirche mit ein paar Freunden — «

«Aber, Leyla! Feiern wir doch hier. Meinst du nicht auch, Tante Anna? Wir haben hier schon seit Ewigkeiten keine

Hochzeit mehr gehabt. Es wäre so schön. Nicht wahr, Onkel Henry?«

«Ich nehme an, Leyla und ihr Verlobter haben bereits ihre eigenen Pläne«, sagte Henry steif. Er sah mich nicht an, während er sprach, und ich hatte den Eindruck, daß er das Thema meiner bevorstehenden Hochzeit am liebsten vermieden hätte.

Das sollte mir nur recht sein. Ich hatte die Absicht, Pemberton Hurst vorher zu verlassen.

«Gehen wir?«Colin stand auf, ohne auf Etikette und guten Ton Rücksicht zu nehmen.

«Also wirklich, Colin!«tadelte Anna.

«Leylas Tasse ist seit zehn Minuten leer, und sie hat sich nicht nachgeschenkt. Das kann nur bedeuten, daß sie mit dem Frühstück fertig ist. Wir haben heute viel vor.«

«Du hast recht, Colin«, sagte ich.»Ich laufe nur hinauf und hole meinen Umhang.«

«Gut. Ich warte hier auf dich.«

Henry und Theo standen auf, als ich aus dem Zimmer ging. Ich eilte rasch die Treppe hinauf, packte Umhang, Hut und Handschuhe und lief schon wieder nach unten. Ich war sehr gespannt auf diesen Rundgang. Aber als ich mich dem Salon näherte, hörte ich erregte Stimmen und blieb stehen.

«Ich werde ihr zeigen, was mir Spaß macht«, sagte Colin hitzig.»Und was sie sehen möchte.«

«Das wirst du nicht tun. «Das war Henrys Stimme. Er schien wütend zu sein.»Du wirst sie nicht dorthin führen, sonst verbiete ich den Rundgang.«

«Leyla hat ihren eigenen Kopf, Onkel«, entgegnete Colin ungerührt.»Über kurz oder lang wird sie allein dorthin gehen. Da ist es doch besser, einer von uns begleitet sie.«

«Aber nicht heute, Colin. Ich verbiete es dir.«

Ich wollte nicht länger lauschen. Ich raffte meine Röcke, rief schon draußen vor der Tür» ich bin fertig «und eilte atemlos in den Salon. Henry und Colin standen sich am Tisch gegenüber wie zwei Kampfhähne.

«Colin?«rief ich, und als er sich umdrehte, sah ich den blitzenden Zorn in seinen Augen. Was konnte das für ein Ort sein, den Henry mich nicht sehen lassen wollte?» Ich bin jetzt fertig.«

«Gut.«

Er schob seinen Stuhl zurück und kam auf mich zu. Nachdem er mir den Umhang abgenommen hatte, warf er einen letzten zornigen Blick in die Runde, dann ging er mit langen Schritten aus dem Zimmer. Ich lief ihm nach und holte ihn im Vorsaal ein.»Ist etwas nicht in Ordnung, Colin?«

Er antwortete mir nicht, hielt mir nur schweigend den Umhang hin, legte ihn mir um die Schultern. Während ich meinen Hut aufsetzte und die Handschuhe überzog, stand er, offenbar tief in Gedanken mit gerunzelter Stirn neben mir und wartete. Als er sah, daß ich fertig war, zog er, immer noch ohne ein Wort, die Haustür auf, bedeutete mir vorauszugehen und ließ die Tür dann krachend hinter uns zufallen. Ein eisiger Wind blies uns ins Gesicht, zerzauste Colins Haar und ergriff meinen Umhang, daß ich Mühe hatte, ihn zu bändigen. Lange standen wir so auf der Treppe, Colin mit finsterem Gesicht, ich geduldig wartend, daß er sich meiner erinnere.

«Wohin wollen wir zuerst gehen?«fragte er unvermittelt.»Hast du einen bestimmten Wunsch?«

«Nein, gar keinen.«

«Dann fangen wir mit den Stallungen an.«

Er ging so schnell, daß ich Mühe hatte, Schritt zu halten. Ich befürchtete, daß diese Besichtigung von Pemberton Hurst bei weitem nicht so angenehm und unterhaltsam werden würde, wie ich geglaubt hatte. Colins Miene blieb grimmig und verschlossen, während wir, gegen den Wind ankämpfend, über den Vorplatz eilten; ihm ging vermutlich immer noch der Streit mit Henry durch den Kopf. Da Henry das Oberhaupt der Familie war, mußte man seinen Anweisungen natürlich Folge leisten, aber ich hatte mehr und mehr den Eindruck, daß Colin nicht bereit war, sich durch Henrys Befehle einschränken zu lassen.

Die Stallgebäude befanden sich links vom Haus, etwas zurückgesetzt. Neben der Remise, zu der eine eigene Zufahrt führte, war der Pferdestall, in dem sich vier Pferde befanden und wo ein Stalljunge wohnte. Nachdem wir die Tür hinter uns zugedrückt hatten, mußte ich erst einmal Atem holen und meinen Hut wieder zurechtrücken, während Colin ziemlich erfolglos sein zu Berge stehendes Haar glattzustreichen suchte.

Es war still im Stall, dämmrig und warm. Ein paar erschrockene Mäuse huschten an unseren Füßen vorüber zu ihren Löchern. Ab und zu schnaubten die Pferde.

«Das ist es«, sagte Colin.»Nicht sehr eindrucksvoll, aber zweckmäßig.«

Ich trat einen Schritt vor, Colin jedoch blieb an der Tür stehen.»Colin«, sagte ich, einer plötzlichen Regung folgend und beobachtete dabei aufmerksam sein Gesicht.»Bitte, geh’ mit mir zum Wäldchen.«

«Zum Wäldchen?«Er zog die Augenbraue hoch.»Wozu denn das?«

«Du hast mir erzählt, daß wir als Kinder dort gespielt haben. Ich möchte es so gern sehen. Vielleicht kommen dann meine Erinnerungen zurück.«

Mir schien, als sei Colin nahe daran, in Gelächter auszubrechen.»Du weißt nicht, was du verlangst.«

«Wieso?«

«Onkel Henry möchte nicht, daß wir dorthin gehen. «Jetzt wußte ich es.»Warum nicht?«fragte ich, den Blick weiterhin unverwandt auf Colin gerichtet.»Mit dem Wind werden wir schon fertigwerden.«

«Es ist nicht der Wind, Leyla. Ich glaube, du weißt, warum er nicht möchte, daß du dorthin gehst.«

«Wegen meines Vaters und meines Bruder, meinst du? Ich weiß, daß ihr euch um mein Wohlergehen sorgt, aber das werde ich schon aushalten.«

Er schüttelte langsam den Kopf.»Du weißt wirklich nicht, warum du besser nicht dorthin gehen solltest?«

«Nein, aber dann erzähle du es mir doch!«

«Das kann ich nicht.«

«Ich habe ein Recht darauf, alles zu wissen.«

Da nahm Colin mich plötzlich bei den Schultern und sah mich mit einem Blick an, bei dem mir selbst in der Wärme des Stalls eiskalt wurde.

«Warum mußtest du zurückkommen, Leyla? Du glaubst, alles zu wissen, aber du weißt gar nichts. Geh wieder fort! Reise noch heute ab — «

«Nein!«

«— kehre zu deinem Architekten zurück. Vergiß die Pembertons. Wir machen dich nur unglücklich.«