«Ist das eine Herausforderung?«

«Wieso? Willst du es für eine Guinee in diesem Haus aushalten?«

«Ich habe nicht den Eindruck, daß es hier etwas auszuhalten gibt. «Colin warf den Kopf zurück und lachte.»Hast du das gehört, Theo? Wie wenig sie über uns weiß.«

Theo war nicht belustigt.»Na, wenigstens hast du uns jetzt das Frühstück gründlich verdorben«, war alles, was er sagte.»Letzte Chance, Leyla«, bemerkte Colin ungerührt.»Du kannst dir Pemberton Hurst von mir zeigen lassen oder du kannst mit Theo gehen. Überleg’ dir die Wahl gut.«

«Sie geht mit mir, Colin, fertig. Du hast doch sicher noch im Pferdestall zu tun. «Theo tupfte sich die Lippen mit der Serviette, und ich fühlte mich flüchtig an Edward erinnert. Colin ignorierte Theos Bemerkung. Er hielt die grünen Augen unverwandt auf mich gerichtet.»Ach, du hältst dich wohl immer noch brav an den guten Rat, dem flegelhaften Colin aus dem Weg zu gehen, wie? Nun, da man dich so nachdrücklich vor meiner Gesellschaft gewarnt hat — «

«Theo hat mich zuerst aufgefordert, Colin, sonst würde ich gern mit dir gehen. Für gestern abend habe ich mich entschuldigt. Was muß ich noch tun, um dir mein Bedauern unter Beweis zu stellen?«Die grünen Augen blitzten unternehmungslustig.»Komm mit mir zum Wäldchen.«

«Colin!«rief Theo und sprang zornig auf.»Bist du verrückt geworden?«

«Ach, aber ich möchte sehr gern zum Wäldchen, Theo. Schon wegen der alten Erinnerungen.«»Nein, Leyla. Da ist es gefährlich. Die Ruinen sind baufällig. Ich muß dir verbieten, dorthin zu gehen.«

Ich starrte ihn verblüfft an, und er senkte die Lider. Theo war es vielleicht gewöhnt, Befehle zu geben, aber ich hatte nicht die Absicht, mich von ihm herumkommandieren zu lassen. Mir lag schon eine entsprechende Erwiderung auf der Zunge, aber dann fiel mir ein, daß ich hier immer noch Gast war, eine Fremde in diesem Haus, und daß es unklug wäre, mir die Feindschaft dieses Mannes zuzuziehen.

Colin schien enttäuscht zu sein.»Tja, schöne Cousine, mir scheint, Theos Wort ist dir Gesetz. Nun, das kannst du halten wie du willst. Ich wünsche euch beiden einen angenehmen Rundgang. «Dann machte er auf dem Absatz kehrt und ging hinaus.

Theo setzte sich wieder.»Du wirst dich schon noch an Colin gewöhnen«, sagte er entschuldigend.»Manchmal könnte man meinen, er wäre bei den Wilden aufgewachsen und nicht auf Pemberton Hurst. «Ich blickte zur Tür.»Wie ist sein Vater eigentlich gestorben?«

«Onkel Richard? Durch einen Unfall mit dem Wagen. Das Pferd scheute, glaube ich.«

«Du weißt es gar nicht genau? Warst du denn nicht hier?«

«Nein, meine Eltern und ich waren damals nicht hier. Es war vor ungefähr zwölf Jahren. Colin war damals dreiundzwanzig. Es war schrecklich für ihn. Er war monatelang nicht ansprechbar. Jedenfalls erzählte man uns das, als wir zurückkamen.«

«Und seine Mutter?«

Theo rührte geistesabwesend in seinem Tee.»Sie kam auch bei dem Unfall ums Leben. Sie saßen beide im Wagen.«

«O Gott. «Ich sah ihn an.»Und wo ist das passiert?«

«Gleich hier unten an der Straße.«

«Hier? In Pemberton Hurst? Das kann doch nicht wahr sein!«»Wieso nicht?«

«Aber sein Vater — und mein Vater. Das ist ja unglaublich. «Zum erstenmal hatte ich das Gefühl, mit einem der Pembertons etwas gemeinsam zu haben.

«Wir sind eine große Familie, Leyla, und Unfälle gibt es immer wieder«, sagte er, als wäre damit alles erklärt.

Ich schaute ihn unverwandt an, aber er wich meinem Blick aus.»Und wo wart ihr, als es passierte?«fragte ich.

«Ich war damals mit meinen Eltern in Manchester. Wir lebten dort. Mein Vater leitete die Spinnerei.«

«Dann hast du also nicht ständig in Pemberton Hurst gewohnt?«

«Nein.«

Seine Antworten wurden immer knapper. Ich weiß nicht, warum ich fragte; die Frage kam mir plötzlich in den Kopf, und ich stellte sie.»Und wann bist du mit deinen Eltern von hier fortgegangen?«Er zögerte, als müsse er seine Worte erst überlegen.»Laß mich nachdenken«, sagte er langsam.»Die Spinnerei wurde 1838 eröffnet. Vater mußte vorausfahren, um Personal einzustellen. Es ist lange her, aber ich glaube, daß wir im selben Jahr von hier fortgegangen sind wie du und deine Mutter. Ein merkwürdiger Zufall eigentlich.«

«Im selben Jahr?«

«Hm. «Er drehte sich demonstrativ um und sah auf die Uhr über dem Kamin.»Es kann kaum mehr als einen Monat später gewesen sein. «Ich blickte Theo stumm an.

«Ah«, sagte er mit gespielter Lebhaftigkeit,»du bist mit deinem Tee fertig. Nimm dir einen warmen Umhang mit. Der Wind ist kalt. «Wir standen gleichzeitig auf. Eine ganz neue Frage schoß mir plötzlich durch den Kopf, ausgelöst wohl durch unser Gespräch.»Theo«, sagte ich,»ist eigentlich bei der Cholera-Epidemie damals sonst noch jemand von der Familie gestorben?«»Bei welcher Cholera-Epidemie?«

«Bei der mein Vater und mein Bruder gestorben sind. «Theo wurde fahl im Gesicht.»Was soll das heißen, Leyla? Dein Vater und dein Bruder sind nicht an der Cholera gestorben.«

Kapitel 4

Ich erstarrte, unfähig, ein Wort hervorzubringen; dennoch beobachtete ich Theos Reaktion auf seine Worte und sah, daß er sich ärgerte. So beiläufig ich meine Frage gestellt hatte, so beiläufig hatte Theo geantwortet, und nun hätte er sich wahrscheinlich am liebsten die Zunge abgebissen. Aber es war zu spät.

Nun wußte ich, daß es in Pemberton Hurst tatsächlich ein Geheimnis gab, das mir vorenthalten werden sollte. Und gleichzeitig wurde mir klar, daß meine Mutter mich nicht nur durch ihr Schweigen, sondern durch eine bewußte Lüge in Unwissenheit gehalten hatte. Ich setzte mich wieder. Theo blieb noch einen Moment unschlüssig stehen, dann nahm auch er wieder Platz.

«Wie sind sie wirklich ums Leben gekommen, Theo?«fragte ich.»Leyla, was hilft es dir, wenn du es erfährst? Ich bin überzeugt, deine Mutter hat dir mit gutem Grund nicht die Wahrheit gesagt. Vertraue ihrem Urteil. Zwanzig Jahre sind vergangen — «

«Wie sind sie ums Leben gekommen?«wiederholte ich leise, aber unnachgiebig. Ich war ruhig und gefaßt. Theo war es, der nervös zu werden begann.

Er schüttelte den Kopf.»Ich möchte es dir nicht sagen.«

«Dann frage ich eben Colin.«

«Lieber Gott, nein, Leyla — «Er beugte sich vor.»Ich habe ein Recht, es zu wissen.«

«Du wirst es mir immer nachtragen, daß ich es dir gesagt habe, Leyla. Du wirst es mir dein Leben lang nicht verzeihen.«

«Wieso?«

«Weil es dich unglücklich machen wird. Kannst du nicht einfach wieder von hier fortgehen — nein, das geht jetzt wohl nicht mehr. Du bist hierher gekommen, weil du deine Familie und deine Vergangenheit kennenlernen willst. Gut, ich erzähle dir alles. Komm mit. «Wir gingen durch den von Gaslampen erleuchteten Flur in die Bibliothek, wo wir uns am Abend zuvor das erstemal begegnet waren. Das helle Feuer im Kamin und die brennenden Kerzen in den silbernen Leuchtern machten den Raum warm und behaglich. Nachdem ich eingetreten war und mich nahe dem Kamin gesetzt hatte, schloß Theo die Tür und nahm mir gegenüber Platz. Das Licht des Feuers spiegelte sich in seinen dunklen Augen. Lange blickte er in die Flammen, ohne ein Wort zu sagen. Und als er zu sprechen anfing, sah er mich immer noch nicht an.

«Es ist für uns alle hier außerordentlich schmerzhaft, von der Vergangenheit zu sprechen, Leyla. Darum versuchen wir, das Thema zu meiden. Du hast Vater und Bruder verloren; Colin hat seine Eltern verloren. Todesfälle in einer Familie sind, so schmerzlich sie sein mögen, etwas Natürliches. Doch diese Todesfälle waren tragisch durch die Art und Weise, wie sie sich ereigneten, und weil die Opfer noch so jung waren. Der Unfall, dem Colins Eltern zum Opfer fielen, bleibt bis heute unerklärlich. Es war schönes Wetter, das Pferd war frisch und ausgeruht, der Wagen war neu. Niemand weiß, wie es zu dem Unglück kam. Sowohl Onkel Richard als auch Tante Jane waren auf der Stelle tot. Wie ich schon sagte, ich selbst war damals nicht hier, aber ich weiß, daß Colin sich von diesem Tag an völlig veränderte. Und er hat sich nie von diesem Schlag erholt. «Nachdem Theo einmal begonnen hatte, schien ihm das Sprechen leichter zu fallen. Er setzte sich bequemer in seinen Sessel, wirkte fast entspannt.

«Es hat hier nie eine Cholera-Epidemie gegeben, Leyla«, fuhr er nach einer kleinen Pause fort.»Dein Vater war lange Zeit sehr krank. Er litt an einem unbekannten Fieber, das die Ärzte nicht behandeln konnten. Es kam in Schüben, dann verging es wieder, doch die Abstände zwischen den Schüben wurden immer kürzer, die Schübe selbst immer heftiger. Wir versuchten alles. Aufenthalte an der See, Opium und andere starke Mittel, aber nichts half. Onkel Robert war nicht zu retten. Und eines Tages dann — «Er brach ab und räusperte sich. Ich wartete wortlos, bis er fortfahren konnte.»Eines Tages sagte er, er fühle sich sehr wohl und wolle mit Thomas einen Spaziergang machen. Die beiden blieben lange fort. Als die Sonne unterging, begannen wir, uns Sorgen zu machen. Mein Vater und ich machten uns auf die Suche nach ihnen. Wir waren vor allem wegen Onkel Roberts Gesundheitszustand beunruhigt. Wir — fanden sie — im Wäldchen.«

Im Kamin zerbrach knisternd ein Holzscheit. Nichts von dem, was Theo erzählte, schlug eine Saite der Erinnerung an. Ich wußte nichts von meinem Vater und seiner Krankheit, nichts von Thomas, nichts von den Ereignissen im Wäldchen.

Theos Stimme kam wie aus weiter Ferne, als er wieder zu sprechen begann.»Irgendwie hatte sich Onkel Robert ein Messer beschafft. Er hatte offenbar einen seiner Schübe bekommen, während er mit Thomas unterwegs war. Sie waren beide tot. Er hatte deinen Bruder getötet und dann sich selbst. «Es war still. Ich starrte in die Flammen und spürte, wie mein Gesicht brannte. Ich suchte in den Flammen nach zwei Menschen, einem Mann, den ich als meinen Vater erkennen, und einem Knaben, den ich als Bruder erkennen würde. Aber sie zeigten sich nicht. Sie kamen nicht zu mir.»Du bist mit deiner Mutter unter so tragischen Umständen von hier fortgegangen, Leyla, daß wir gestern, als du plötzlich wieder vor uns standest, nicht wußten, was wir sagen sollten. Wir wußten nicht, wie wir uns verhalten sollten; denn wir wußten auch nicht, wie weit du dich an vergangene Ereignisse erinnertest und was deine Mutter dir erzählt hatte. Ich sehe jetzt, daß wir recht hatten, Stillschweigen zu bewahren. «Ich hob den Kopf und sah Theo an.»Ja, natürlich«, sagte ich.»Ich verstehe.«

«Wir wußten, daß Colin mit dir darüber sprechen würde, ohne Rücksicht darauf, ob du etwas davon wußtest oder nicht. Ich bin froh, daß ich es dir jetzt sagen konnte. Früher oder später hätte er es dir auf jeden Fall erzählt.«

«Ja, Theo, ich danke dir. «Dies also war der Grund, weshalb sich alle mir gegenüber so seltsam verhalten hatten. Dies war die Lösung. Mein Vater hatte einen Mord verübt und sich dann selbst das Leben genommen. Kein Wunder, daß diese Menschen sich in meiner Anwesenheit zutiefst unbehaglich fühlten.»Ehrlich gesagt, Theo, ich würde jetzt lieber auf den Rundgang verzichten, wenn es dir nichts ausmacht. Ein andermal vielleicht.«

«Natürlich, das verstehe ich.«

«Weißt du, es ist — es ist als hätte ich meinen Vater und meinen Bruder soeben noch einmal verloren. Zwanzig Jahre lang glaubte ich, sie seien an der Cholera gestorben. Und jetzt erfahre ich, daß sie — daß sie auf ganz andere Art ums Leben gekommen sind. Es ist, als wären sie zweimal gestorben. Ich kann es dir nicht beschreiben. Innerhalb von zwei Monaten habe ich vier Menschen verloren. Meine Mutter und meinen Vater — «Ich ging wie in Trance zur Tür —»Thomas und Tante Sylvia. Ich wünsche so sehr, ich hätte sie gekannt. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwer es ist, um Menschen zu trauern, an die du nicht einmal eine Erinnerung hast. Bitte, entschuldige mich jetzt.«

Er öffnete mir die Tür und begleitete mich durch den Flur. Am Fuß der Treppe wandte ich mich ihm noch einmal zu und sagte:»Ich würde gern allein hinaufgehen, Theo, wenn es dir recht ist.«

«Brauchst du wirklich keine Hilfe?«

Ich lachte ein wenig.»Aber nein. Ich bin es gewöhnt, allein zurechtzukommen. Entschuldige mich bitte bei den anderen, ja?«

Die Stufen glitten unter mir hinweg, als flöge ich aufwärts, ohne sie mit den Füßen zu berühren. Mein Kopf war leer und wie von dicken Schleiern umhüllt. Der Schock dieser Nachricht ging viel tiefer, war viel schmerzhafter als der über Sylvias Tod, denn mit dieser neuen Erkenntnis veränderte sich alles: Pemberton Hurst und meine Familie, meine Mutter, die vergangenen zwanzig Jahre, und letztlich veränderte sie auch mich.

Ich weiß nicht, wie lange ich an jenem Tag auf meinem Bett lag, aber als ich endlich den Kopf hob und zum Fenster schaute, sah ich, daß die schräg einfallenden Strahlen der Sonne schon den rötlichen Schimmer des Abends hatten. Ich hatte mich viele Stunden meinem Schmerz überlassen.