»Aber das Kind ist nicht von mir, Dad.«

»Ich habe dir schon einmal gesagt, daß es darum nicht geht, Mike. Du hättest deinen Freunden gegenüber nicht das große Mundwerk haben sollen. So wie die Dinge liegen, ist das Kind so gut wie deines.« Nat holte einmal tief Atem und ließ die Luft langsam wieder heraus. Dann sah er Ted an. »Alles in Ordnung? Möchten Sie etwas zu trinken?«

»Nein ...« Teds Stimme war heiser. »Nein, Nat, ist schon gut. Es tut mir leid - ich weiß nicht, was plötzlich in mich gefahren ist.«

»Lassen Sie nur. Ich versteh es. Also, was wollen wir jetzt tun?«

Tun? Handeln? Eine Entscheidung treffen? »Ich weiß nicht, Nat. Ich hatte noch gar keine Zeit -«

»Haben Sie mit Pater Crispin gesprochen?«

»Noch nicht.«

Nat beugte sich vor und legte Ted die Hand auf den Arm. »Wir werden schon eine Lösung finden, Ted. Wir müssen überlegen, was mit Mary und dem Kind geschehen soll. Ich weiß noch nicht - sie sind beide noch so jung für eine Ehe, aber wenn das -«

»Nein, keine Notheirat, Nat.«

»Vielleicht kann Pater Crispin helfen. Wir suchen ihn zusammen auf.«

Ted sah die Anteilnahme und die Besorgnis in den grauen Augen Nat Hollands und straffte seine Schultern. »Ich muß mir das alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen, ehe ich mit Pater Crispin spreche. Lucille und ich müssen uns erst wieder fassen. Es ging alles so schnell.«

»Was sagt der Arzt?«

»Wozu?«

»Über das Kind, Ted. Wann ist es soweit?«

»Oh - ach so.« Wann waren sie in Dr. Wades Praxis gewesen, um Mary abzuholen? War das erst gestern abend gewesen? »Er sagte, Januar.«

Keiner sprach mehr. Nach einer Weile stand Ted schwerfällig auf. Er sah auf Mike hinunter. Sein Zorn und seine Wut waren verraucht. Der Junge sah alt aus.

Nat brachte Ted zur Tür. »Es tut mir leid, Ted. Wirklich. Ich fühle mich verantwortlich. Und Mike -« seine Stimme zitterte ein wenig - »ich weiß noch nicht, was ich da tun werde. Aber wir werden eine Lösung finden, Ted. Verlassen Sie sich darauf. Rufen Sie mich an. Halten Sie mich auf dem laufenden.«

Ted war nicht fähig, dem anderen ins Gesicht zu blicken. »Ich berichte Ihnen, was Pater Crispin meint«, sagte er leise.

Jonas Wade nahm seine Brille ab und legte sie auf den Tisch. Mit Daumen und Zeigefinger rieb er sich den Nasenrücken, um die durch das lange Tragen der Brille entstandenen Einkerbungen wegzumassieren. Dann sah er nachdenklich auf die Zeitschriften hinunter, die vor ihm ausgebreitet lagen.

Er hatte ihn gefunden, den Bericht, den er vor einigen Jahren gelesen und an dessen Inhalt er sich nur noch bruchstückhaft erinnert hatte. Aber er hatte noch mehr gefunden; ein Artikel hatte zum nächsten geführt, immer neue Zeitschriften hatte er sich geholt, und jetzt saß er im stillen Lesesaal der Bibliothek allein vor einem Tisch, auf dem ein ganzes Dutzend aufgeschlagener Hefte verstreut lagen.

Und was hatten sie ihm schließlich nach zwei Stunden konzentrierter Lektüre sagen können?

Erst hatte er den Truthühnern nachgespürt. Der Artikel im Scientific American vom Februar 1961 enthielt im wesentlichen das, was Bernie ihm bereits gesagt hatte. Danach: Science Newsletter, November 1957. Hier wurde berichtet, daß die Anzahl der Fälle von Parthenogenese bei solchen Truthennen und Hennen gestiegen war, die mit einem neuen Serum gegen Geflügelpocken geimpft worden waren. Man hatte beobachtet, daß mit dem Serum geimpfte Vögel aus unbefruchteten Eiern gesunde und normale Junge ausgebrütet hatten. Den Auslöser für diese Entwicklung hatte man jedoch nicht bestimmen können. Man war sich nicht darüber einig, ob der Impfstoff selbst oder ein unbekannter, in dem Serum enthaltener Stoff der Aktivator war.

Jonas hatte also Bernies parthenogenetische Truthennen gefunden und ebenso die Antwort auf die Frage, die Bernie ihm nicht hatte beantworten können: Nein, die Wissenschaft wußte nicht, was die Ursache für das Wachstum der unbefruchteten Eizelle war.

Nach einigem Suchen hatte Jonas auch den Bericht entdeckt, um dessentwillen er ursprünglich hierher gekommen war.

Im Jahr 1955 hatte in England eine dreißigjährige Frau behauptet, ihre Tochter jungfräulich gezeugt zu haben; die

Empfängnis, erklärte sie, hätte während eines Bombenangriffs im Krieg stattgefunden. Dr. Stanlex Balfour-Lynn vom Queen Charlotte Maternity Hospital und Dr. Helen Spurway Dozentin für Eugenik am University College in London, hatten den Fall auf gegriffen und durch ihre Untersuchungen Genetiker und Embryologen auf der ganzen Welt aufmerksam gemacht.

Die Behauptung der Frau konnte nur durch Blut- und Serumuntersuchungen an der Tochter sowie durch eine langzeitliche Hautverpflanzung bestätigt oder widerlegt werden. Hautverpflanzungen von einem Menschen auf einen anderen waren einzig bei eineiigen Zwillingen möglich; in allen anderen Fällen wurde die fremde Haut abgestoßen, auch wenn es sich um Mutter und Kind handelte, da die Zellen des Kindes immer auch Antigene des Vaters enthielten.

Die Chromosomenuntersuchungen erwiesen, daß die genetische Struktur bei Mutter und Tochter identisch war. Jedoch die Hautverpflanzung gelang nicht. Dies allerdings sei kein schlüssiger Gegenbeweis, erklärten die Befürworter der Parthenogenese; das Mißlingen der Verpflanzung könne alle möglichen Komplikationen zur Ursache haben und sei nicht eindeutig auf das Vorhandensein männlicher Antigene zurückzuführen.

Jonas nahm sich noch einmal den Lancet vom 5. November 1955 vor. Diese hochangesehene englische Fachzeitschrift hatte sich in einem eingehenden Bericht mit der Kontroverse befaßt, und der Autor hatte widerstrebend zugeben müssen, daß »wir unsere Überzeugung, spontane Parthenogenese bei Säugetieren sei ein Ding der Unmöglichkeit, vielleicht doch noch einmal überdenken müssen«. Der in Jonas' Augen entscheidende Satz lautete: »Es ist möglich, daß manche der ledigen Mütter, deren Starrsinn in alten Büchern angeprangert wird ...

die Wahrheit gesprochen haben.«

Selbst beim Lancet, wo man Dr. Spurways Behauptungen anfänglich verlacht hatte, hatte man schließlich eingestehen müssen, daß es möglich sein konnte ...

Jonas legte die Zeitschrift aus der Hand und rieb sich die Augen. Die ganze Sache war äußerst unbefriedigend; einerseits hatte er mehr gefunden, als er erwartet hatte, andererseits jedoch weit weniger, als er sich erhofft hatte. Nach einigen Monaten lebhafter Kontroverse und weitreichender Publicity -Time, Newsweek und sogar der Manchester Guardian hatten über den Fall berichtet - hatte der Aufruhr sich gelegt, und bald krähte kein Hahn mehr danach.

Bewiesen ist gar nichts, hatte die schwerfällige wissenschaftliche Gemeinde erklärt; es gibt ja nichts als negative Beweise - die Zellen des Kindes enthalten dies nicht oder jenes; aber um eine Theorie zu erhärten, bedarf es positiver Beweise. Doch woher sollte man die nehmen?

Acht Jahre waren seitdem vergangen. Wissenschaft und Forschung hatten in der Zwischenzeit Riesenschritte gemacht. Es mußte doch irgendwo irgend jemanden geben ...

»Faszinierend«, sagte Bernie ohne große Überzeugung.

Sie saßen in einem Straßencafe in Westwood Village bei einem Bier. Jonas hatte Bernie eine Stunde zuvor angerufen und ihn gebeten, sich dort mit ihm zu treffen.

»Das ist alles, was du dazu zu sagen hast? Faszinierend?«

»Was willst du denn hören, Jonas?«

Jonas schüttelte den Kopf. Er hatte Bernie die Kopien der Artikel gezeigt, ihm seine Vorstellungen erläutert. »Es ist zum Verrücktwerden, Bernie. Je mehr ich lese, desto weniger weiß ich.«

»Das ist natürlich ziemlich deprimierend, aber wenn du mich für den Experten hältst, der dir deine Fragen zu dieser Sache beantworten kann, muß ich dich enttäuschen.« Er wischte sich den Bierschaum von den Lippen. »Aber lassen wir mal den Spurway-Fall beiseite, denn da konnte ja in den Augen der hohen Wissenschaft nichts bewiesen werden. Hast du denn sonst noch irgend etwas über Parthenogenese bei Säugetieren gefunden?«

»Nichts. Es drehte sich immer nur um Elritzen, Seeigel, Eidechsen und Vögel. Bei Geiern findet die Fortpflanzung in der Natur manchmal durch Parthenogenese statt. Darüber weiß ich jetzt eine ganze Menge. Aber über die höheren Tiere habe ich nichts gefunden.«

»Hm.« Bernie runzelte die Stirn und hüllte sich in Schweigen.

»Ich brauche deine Hilfe, Bernie.«

»Wozu? Bist du so sicher, daß das Mädchen die Wahrheit sagt? Schau mal, Jonas, die entscheidende Frage ist doch, ob Parthenogenese bei Säugetieren überhaupt möglich ist. Habe ich recht? Man kann von Truthühnern nicht einfach auf Menschen schließen. Aber -« er hob belehrend seinen dicken Zeigefinger - »von, sagen wir, Mäusen sehr wohl. O ja, ganz entschieden. Und ich glaube, ich weiß, wo du da was finden kannst.«

Bernie wischte sich die Hand an einer Papierserviette ab und zog ein in Leder gebundenes Notizbuch aus der Innentasche seines Tweedjacketts. Er klappte es ganz hinten auf und schrieb etwas hinein. Dann riß er die Seite heraus und reichte sie Jonas.

»Mit dieser Dame solltest du dich mal unterhalten. Sie ist hier an der Universität.«

Jonas las den Namen. »Henderson, Embryologin. Ist sie gut?«

»Eine Kapazität. Du kannst sie praktisch zu jeder Zeit in ihrem Labor erreichen. Dritter Stock. Du brauchst vorher nicht anzurufen. Sie hat gern Besuch und sie redet gern. Und wenn sie dir sagt, daß Parthenogenese bei Säugetieren nicht möglich ist, mein Freund, dann kannst du dich drauf verlassen, daß es stimmt, und kannst deine hirnverbrannte Idee endgültig ad acta legen.«

Es war ein glühend heißer Tag. Mary lag auf ihrem Bett und starrte zur Lampe in der Mitte der Zimmerdecke hinauf. Sie wünschte, sie hätte ein anderes Zimmer; ihres ging nach Süden. Nicht einmal die Klimaanlage, die das ganze Haus kühlte, brachte da viel Abhilfe.

Sie war heute morgen nicht zur Schule gegangen. Nach einer fast schlaflosen Nacht, in der sie stundenlang geweint hatte, war sie am Morgen mit rasenden Kopfschmerzen und starker Übelkeit erwacht. Obwohl sie seit dem vergangenen Mittag nichts gegessen hatte, hatten die Gerüche von gebratenem Schinken und Kaffee, die aus der Küche kamen, das Gefühl der Übelkeit nur verstärkt, und sie war gar nicht erst hinausgegangen. Sie hatte ihr Zimmer abgesperrt und war den ganzen Tag für sich geblieben. Daß ihre Mutter nach dem gestrigen Tag zum Alltag zurückkehren konnte, als wäre nichts gewesen, war ihr unbegreiflich.

Niemand war an ihre Tür gekommen. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, nach ihr zu sehen. Sie hatte gehört, wie ihr Vater gegen elf weggefahren war, und hatte mittags Amy mit ihrem Schwimmzeug unter dem Arm davongehen sehen. Sie hatte gehört, wie ihre Mutter durch das ganze Haus gegangen war und alle Fenster geschlossen hatte, um dann die Klimaanlage einzuschalten. Danach war sie ins Schlafzimmer gegangen und hatte die Tür zugemacht.

Jetzt wurde es bereits dämmrig, und Mary lag immer noch in ihrem Zimmer. Auch ihre Mutter hatte sich nicht aus dem Schlafzimmer gerührt. Amy war bis jetzt nicht heimgekommen, und ihr Vater auch nicht.

Sie wartete mit Ungeduld und Furcht auf seine Heimkehr, um endlich zu erfahren, was er nun zu tun gedachte. Gestern abend hatte ihre Mutter ihm gesagt, er solle jemanden suchen, damit sie »das Ding loswerden« könnten.

Das Telefon läutete.

Sie lauschte. Nichts rührte sich im Haus. Beim dritten Läuten sprang Mary vom Bett und rannte hinaus. Sie lief zu dem Apparat in der Küche, weil der von den Schlafzimmern am weitesten entfernt war, und hob ab.

»Hallo?« meldete sie sich außer Atem.

»Mary?« Es war Germaine. »Wie geht's dir?«

Mary lehnte sich an die kühle Wand. »Hallo, Germaine.«

»Warum warst du heute nicht in der Schule? Alle haben nach dir gefragt.«

»Mir war wieder nicht gut.«

»Hat der Arzt denn nicht festgestellt, was dir fehlt?«

Mary seufzte. Seit jenem ersten Besuch bei Dr. Wade schien eine unendlich lange Zeit verstrichen zu sein. Germaine wußte von diesem Besuch, aber nicht von dem Befund und auch nicht von dem zweiten Besuch bei Dr. Evans.

»Nein. Es scheint was ganz Mysteriöses zu sein.«

»Hey, wir haben heute unsere Zeugnisse bekommen. Stell dir vor, in Französisch hab ich ein B. Ist das nicht toll? Die fand meinen Aufsatz über den Existenzialismus tatsächlich

gut. Mary? Hörst du mich überhaupt?«

»Ja.«

»Kommst du morgen wieder?«

»Ich weiß noch nicht.«

»Es ist der letzte Tag, Mary, du weißt doch, da geht's immer hoch her.« Einen Moment trat Schweigen ein. »Okay, dann mach ich jetzt mal Schluß. Ich warte morgen an der Fahnenstange auf dich wie immer, ja?«