»Ja.«
»Und wenn du was brauchst, dann ruf mich an, okay?«
»Ja. Danke.«
Den Hörer in der Hand behaltend, obwohl Germaine aufgelegt hatte, stand Mary da und sah sich wie eine Fremde in der Küche um. Mehrere Schubladen standen offen, auf der Anrichte waren Kaffeeflecken, die Butter auf dem Tisch war halb geschmolzen. Sie drückte auf die Gabel des Telefonapparats, wartete, bis das Freizeichen kam und wählte dann beinahe mechanisch Mikes Nummer.
Timothy meldete sich. »Hier ist das Weiße Haus. Sie wünschen bitte?«
»Hallo, Timmy, ich bin's, Mary. Ist Mike da?«
»Ja, warte, ich hol ihn.«
Sie hörte den Jungen laut nach Mike rufen, hörte eine gedämpfte Antwort, dann wieder Timothys Stimme, »Es ist Mary«. Sie rutschte an der Wand hinunter, bis sie auf dem Boden hockte, und wartete darauf, daß Mike sich melden würde.
»Hallo«, sagte er endlich.
»Mike?« Mary umklammerte den Hörer so fest, daß ihre Finger weiß wurden. »Mike, kannst du gleich mal rüberkommen?«
Seine Stimme kam von weit her. »Mary - ich wollte dich gerade anrufen.«
In seinem Ton war eine Schwingung, die sie beunruhigte. »Mike«, flüsterte sie, »war mein Vater heute bei euch?«
Eine Pause. Dann sagte er: »Ja.«
Sie schluckte. »Dann - weißt du es?«
»Ja.«
Sie schloß die Augen. »Ich muß unbedingt mit dir reden.«
»Ja, Mary, ich will auch mit dir reden. Mary ...« Seine Stimme klang gepreßt und undeutlich, wie durch Watte. »Mein Gott, Mary, ich war total geschockt. Echt, ich hab den ganzen Tag an nichts anderes denken können. Ich meine, es ist so, so unfaßbar, verstehst du? Mary, eins muß ich wissen.«
»Was denn?«
»Mit wem hast du's getan?«
Sie riß die Augen auf. Ihr Blick flog durch die Küche; die Unordnung, die ihre Mutter hinterlassen hatte - so untypisch für sie.
»Mike«, sagte sie angespannt, die Knie bis zur Brust hochgezogen. »Mike, ich hab nichts getan. Ich schwör's dir, ich hab nichts getan. Mit niemandem. Was die Ärzte sagen, ist nicht wahr. Sie irren sich. Aber ich hab solche Angst, und meine Eltern glauben mir nicht. Ich hab keinen Menschen.« Mary schossen die Tränen in die Augen. Sie sah die Küche nur noch wie durch einen Schleier. »Mike, du mußt herkommen, ich brauch dich.«
»Ich kann nicht, Mary. Jetzt nicht -«
»Dann komm ich zu dir. Oder wir treffen uns irgendwo. Ich muß dir das alles erklären. Wir müssen drüber reden. Ich werd damit allein nicht fertig. Ich weiß nicht, was los ist.«
Mary lauschte auf die Stille und mißverstand sie. »Ach, Mike«, flüsterte sie, »bitte tu mir das nicht an .«
Schluchzend sagte er: »Es tut mir so leid, Mary - so verdammt leid. Ich - ich liebe dich. Ich liebe dich so sehr. Mary!« rief er. »Es ist mir gleich, ehrlich. Ich steh zu dir, ich schwör's dir. Du kannst dich auf mich verlassen. Ich heirate dich auch, aber ich muß es wissen. Ich muß es wissen, Mary.« Er hatte Mühe, die Worte herauszubringen. »Warum ein anderer? Warum nicht ich?«
»Mike, bitte! Du verstehst mich nicht. Und ich weiß nicht, wie ich es dir verständlich machen soll.«
»Mary, wenn du mich liebst -« er kämpfte um seine Beherrschung - »wenn du mich liebst, dann sei ehrlich mit mir. Wir müssen aufrichtig zueinander sein, das waren wir doch immer. Keine Geheimnisse, Mary, darum geht's doch, wenn man sich liebt. Wir stehen das gemeinsam durch, ich versprech es dir, aber laß mich nicht außen vor, lüg mich nicht an.«
»Ich lüge nicht -«
»Deinem Vater kannst du erzählen, was du willst, aber mir mußt du vertrauen, Mary. Weißt du eigentlich, wie weh mir das tut? Es tut gemein weh, dich zu lieben und zu wissen, daß du es mit einem anderen getan hast und mir nicht mal so viel Vertrauen entgegenbringst, daß du mir die Wahrheit sagst -«
»Aber ich hab doch gar nicht -«
»Das ist wirklich das Schlimmste! Daß du mir nicht die Wahrheit sagst. Vertrau mir doch, Herrgott noch mal!«
Wieder schloß Mary die Augen und leckte sich die Tränen von den Lippen. Einen Moment lang war die Versuchung groß
- ihm irgend etwas zu erzählen, eine Geschichte zu erfinden, einen anderen Jungen, einen Freund von Germaine vielleicht, einen Freund ihres Freundes Rudy. Wir haben was getrunken, und eigentlich wollte ich gar nicht, und es war auch gar nicht schön, aber nun hab ich's mal getan, und es tut mir leid, du hast keine Ahnung, wie sehr ich es bereue, Mike. Dann würde Mike herüberkommen und sie in die Arme nehmen und trösten ...
»Mike.« Ihre Stimme war ernst und ruhig. »Ich sage dir die Wahrheit. Ich habe nichts getan. Mit niemandem. Sag, daß du mir glaubst.«
Seine Stimme war verzerrt. »Ich kann nicht mehr reden. Ich kann jetzt nicht mehr, Mary. Ich muß nachdenken. Ich muß mir überlegen, was ich tun soll. Alle - mein Vater und meine Brüder - glauben, das Kind wäre von mir. Ich muß nachdenken, Mary.«
Marys Mund formte die Worte: Ich bekomme kein Kind. Aber ihre Stimme versagte.
Mike sprach stockend weiter. »Ich kann jetzt nicht mit dir sprechen, Mary. Ich muß mir selbst erst klar werden, was ich tun soll. Ich muß erst mal mit mir selber zurechtkommen, verstehst du? Wir müssen zusammenhalten, Mary, aber du willst nicht, du hast kein Vertrauen zu mir, und ich - ich -«
Ihre Stimme war tonlos. »Du hast mir überhaupt nicht zugehört.« Ohne ein weiteres Wort legte sie auf.
Minutenlang blieb sie wie betäubt auf dem Boden hocken, ohne sich zu rühren, ohne einen Laut. Das Telefon läutete zwölfmal, aber sie hob nicht ab. Dann schlug sie die Hände vor ihr Gesicht und begann zu weinen. »Daddy«, schluchzte sie immer wieder. »Daddy .«
Ted war überrascht, das Haus dunkel vorzufinden, als er nach Hause kam. Er blieb einen Moment lang verwundert stehen und blinzelte in die Dunkelheit, dann knipste er in der Diele das Licht an und ging müde ins Wohnzimmer.
Jetzt brauchte er erst einmal einen Whisky. Dann würde er nachsehen, wo der Rest der Familie war, und danach würde er vielleicht darüber nachdenken, wie es weitergehen sollte.
Als er noch dabei war, sich einzuschenken, hörte er plötzlich lautes Krachen und das Splittern von Glas. Er stellte Flasche und Glas nieder und stürzte hinaus. Der Flur war leer, aber unter der Tür zum Badezimmer der Mädchen schimmerte Licht. Ted rannte hin und legte das Ohr an die Tür. Nichts.
»Mary?« rief er. Alles blieb still. »Amy?« Noch immer rührte sich nichts.
Er versuchte den Türknopf zu drehen. Die Tür war abgeschlossen.
»Wer ist da drin? Antwortet! Mary? Amy?«
Er schlug mit beiden Fäusten an die Tür.
Die Tür des Schlafzimmers öffnete sich. Lucille kam schlaftrunken heraus. »Was ist das für ein Krach -«
»Mary!« Ted schlug fester an die Tür. »Mary! Mach auf!«
Lucille kam zu ihm. »Was ist denn los?«
Ohne sie zu beachten, ging er ein paar Schritte zurück, hob das rechte Bein und trat mit dem Fuß kräftig gegen die Tür. Ein schwarzer Abdruck blieb auf dem Weiß des Holzes zurück. Er trat noch einmal.
»Ted!« schrie Lucille.
Beim sechsten Tritt sprang die Tür auf. Ted stürzte ins Bad. Mary lag in einer Blutlache auf dem Boden. Im Waschbecken fanden sie eine Rasierklinge.
7
Am schlimmsten fand sie den Ausdruck auf dem Gesicht ihres Vaters. Ihre Mutter war wenigstens so rücksichtsvoll gewesen, zum Fenster zu gehen und zur Straße hinauszuschauen; aber Ted mußte am Bett sitzen und sie unablässig ansehen. Er erinnerte sie an einen Cockerspaniel.
Marys Arme lagen auf der Bettdecke. Beide Handgelenke und Hände waren verbunden; die Klinge hatte an ihren Fingern ebensoviel Schaden angerichtet wie an den Handgelenken.
Sie war am Abend zuvor auf der Unfallstation zu sich gekommen. Dr. Wade verband gerade ihr Handgelenk, als sie, vom grellen Licht geblendet, den Kopf auf die Seite drehte, seine vertraute Stimme hörte. »Es ist alles gut, Mary«, sagte er ruhig. »Du hast nicht viel Blut verloren. Du bist durch die psychische Belastung ohnmächtig geworden, nicht vom Blutverlust.«
Sie drehte den Kopf wieder zurück, um ihn ansehen zu können. Er lächelte beruhigend. Sie schloß die Augen und schlief wieder ein.
In der Nacht war sie erneut aufgewacht, allein in einem Privatzimmer, einen Plastikschlauch im Arm, der zu einer über ihr hängenden Flasche hinaufreichte. Sie hatte lange wach gelegen und sich zu erinnern versucht. Aber schließlich war sie doch wieder eingeschlafen.
Als sie am Morgen erwachte, war der Schlauch in ihrem Arm nicht mehr da. Eine freundliche Schwester war hereingekommen, hatte eine Schale mit warmem Wasser vor sie hingestellt und ihr behutsam das Gesicht gewaschen, ihre Zähne geputzt und dann ihr Haar gekämmt. Mary hatte das alles schweigend über sich ergehen lassen. Später war dieselbe Schwester mit dem Frühstück gekommen und hatte Mary geduldig gefüttert.
Und dann waren endlich ihre Eltern gekommen. In den Augen ihres Vaters sah sie so viel Verwirrung und Schmerz, daß sie es kaum über sich brachte, ihn anzusehen.
»Wir haben Amy gesagt, du hättest Blinddarmentzündung«, sagte er mit einem kummervollen Blick auf ihre verbundenen Hände. »Deine Mutter hat in der Schule angerufen und das gleiche gesagt. Sie schicken dir dein Zeugnis per Post.«
Sie hielt den Blick auf die in der Zimmerdecke verankerte Metallstange gerichtet, an der ein Vorhang herabhing, den man um das ganze Bett herumziehen konnte. Sie wünschte, sie könnte das jetzt tun. Sich von ihren Eltern abschirmen.
»Mary -«
»Ja, Daddy?«
»Mary, kannst du mich nicht ansehen?«
Sie zögerte einen Moment, dann drehte sie den Kopf und sah ihm ins Gesicht.
»Es tut mir so leid, Kätzchen«, sagte er.
»Mir auch, Daddy.«
»Mary.« Ted war sichtlich verlegen. »Mary, ich -«
Sie sah ihn ruhig an. »Daddy, ich weiß nicht, warum ich es getan habe. Ich - ich hab's einfach getan.«
»Du hast uns schreckliche Angst gemacht.« Er hätte so gern ihre Hand gehalten. »Mary - Kind, warum bist du nicht zu uns gekommen? Wir sind doch deine Eltern. Du kannst immer
zu uns kommen.«
Ihre Augen waren stumpf und leblos.
»Ich danke Gott«, flüsterte er, »daß ich rechtzeitig nach Hause gekommen bin.«
Sie drehte den Kopf zur Seite. In die Stille des Zimmers drangen die alltäglichen Geräusche des Krankenhauses. Eilige Schritte im Korridor, das Klappern eines Wagens, der vorbeigeschoben wurde; die Stimme des Lautsprechers, über den einer der Ärzte ausgerufen wurde.
Dann klopfte es. Mary stockte das Herz. Wenn es Mike ist, werde ich - Germaine schaute zur Tür herein. »Mary?«
Ted sprang auf. »Dr. Wade hat jeden Besuch verboten.«
»Ja, ich weiß, Mr. McFarland.« Germaine kam ins Zimmer und schloß die Tür hinter sich. »Ich hab gesagt, ich wäre Marys Schwester. Mary? Ist es dir lieber, wenn ich wieder gehe?«
»Mary ist wirklich nicht in der Verfassung -«
»Ach, Daddy, laß doch. Ich bin froh, daß Germaine gekommen ist.«
Germaine kam ans Bett, sah mit einem Blick die bandagierten Hände. Sie legte ihre Tasche auf einen Stuhl und setzte sich zu Mary aufs Bett.
»Du warst heute morgen nicht an der Fahnenstange.«
Mary lächelte schwach. »Ich hatte was anderes zu tun.«
»Ja, das seh ich. Ich hab bei euch zu Hause angerufen, und Amy sagte, du hättest Blinddarmentzündung, und dein Vater hätte dich ins Encino Krankenhaus gefahren.« Germaine lächelte. »Ich sehe man hat dir den Blinddarm rausgenommen.«
Mary hob die Arme. »Beide.«
»Ach, Mensch, Mary .«
Ted ging ein paar Schritte vom Bett weg und sah ungläubig, wie seine Tochter in Gegenwart der Freundin lebendig wurde.
»Hast du's kurz nach meinem Anruf getan, Mary?«
»So ungefähr, ja.«
»Ach, Mann, warum hast du nichts gesagt? Ich hab gleich gefunden, daß du komisch klingst. Warum hast du nicht mit mir geredet, Mary? Ich bin doch deine beste Freundin.«
»Ich konnte nicht. Es ist alles so schwierig. Ich meine, warum ich es getan habe. Du weißt ja nicht, was -«
Sie begann zu weinen. Impulsiv neigte sich Germaine zu ihr hinunter und drückte ihre Wange an Marys. Ted wäre am liebsten dazwischengefahren, aber er hielt sich zurück. Bekümmert sah er zu, wie Mary, die ihm gegenüber so verschlossen geblieben war, der Freundin die Arme um den Hals legte. Er hörte sie leise miteinander sprechen, wobei Germaine zart Marys Stirn streichelte und ihre Wange küßte.
Nach einer Weile richtete sich Germaine auf, warf das lange Haar zurück und wischte sich die Tränen vom Gesicht.
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