»Es war wie im College. In einem Wohnheim. Es ist wirklich ganz schön da. Es hat überhaupt keine Ähnlichkeit mit einem Krankenhaus. Ich hatte ein Zimmer zusammen mit einem sehr netten Mädchen, und die Nonnen waren immer freundlich. Aber ich gehöre da nicht hin. Die anderen Mädchen waren alle schwanger, weil sie was getan hatten, und sie wußten es auch. Sie haben sogar darüber geredet. Nur bei mir war es anders. Ich war ausgeschlossen. Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken, und am Schluß konnte ich es einfach nicht mehr aushalten, nur rumzusitzen und abzuwarten. Ich muß wissen, wieso ich schwanger bin.«

Erst jetzt drehte er sich endlich um. »Die Ärzte im St. Anne's haben dich doch untersucht, Mary. Was haben sie dir über deinen Zustand gesagt?«

Sie sah ihn groß an. »Was meinen Sie?«

»Nun, man hat dich doch untersucht, nicht wahr?«

»Ja. Einmal in der Woche.«

»Na also. Und was haben die Ärzte gesagt? Haben sie dir gesagt, daß du gesund bist? Daß alles normal verläuft?«

Genauer wollte er nicht werden. Er wollte das Mädchen nicht beunruhigen. Statt dessen würde er gleich morgen vom St. Anne's ihre Unterlagen anfordern.

Mary zuckte die Achseln. »Ich glaub schon, daß alles normal ist. Sie haben gesagt, ich hätte nicht zuviel zugenommen, und geschwollene Füße seien normal. Sie haben nicht viel mit mir gesprochen.«

Jonas fühlte sich unbehaglich, schlecht vorbereitet auf dieses Gespräch, das sich so überraschend ergeben hatte. Er brauchte Fakten, aber er wußte nicht, wie er danach fragen sollte.

»Oh«, fügte sie mit einem flüchtigen Lächeln hinzu. »Sie

haben gesagt, daß das Baby normal und gesund ist.«

Einen Moment lang starrte er sie verständnislos an. »Was?« sagte er dann.

»Ich hab seinen Herzschlag gehört. Einer von den Ärzten war echt nett und .«

Er hörte Marys Stimme gar nicht mehr. Sie hat seinen Herzschlag gehört! Es hat einen Herzschlag!

»Ist was, Dr. Wade?«

Jonas zwinkerte. »Bitte? Nein, nein, entschuldige. Ich war in Gedanken.« Er kehrte zu seinem Sessel zurück und blieb auf die Rückenlehne gestützt stehen. Es hatte einen Herzschlag. Es lebte ...

Jonas setzte sich und zwang sich zur Ruhe. »Mary, du bist, wie ich dir schon sagte, nicht die einzige, die sich fragt, wie du schwanger werden konntest. Ich habe versucht, das Rätsel zu lösen, aber ich habe gemerkt, daß ich es ohne deine Hilfe nicht schaffe.«

»Und wie kann ich Ihnen helfen?«

»Indem du mir ein paar Fragen beantwortest. Versuchen wir es, ja?«

»Natürlich. Heißt das, daß Sie meine Eltern vorläufig nicht anrufen?«

Die Frage traf ihn wie ein Schlag. So eingesponnen war er in sein wissenschaftliches Interesse gewesen, daß er seine Verantwortung als Arzt der Patientin gegenüber völlig aus den Augen verloren hatte. Das Mädchen war durchgebrannt; zweifellos machte man sich inzwischen Sorgen um sie. Er griff zum Telefon.

Fünf Minuten später waren die Nonnen in St. Anne's informiert und beruhigt. Bei den McFarlands hatte sich niemand gemeldet.

»Ich versuche es in ein paar Minuten noch einmal«, sagte Jonas. »Also, kommen wir zu den Fragen, Mary.« Er zog sich einen Block heran und nahm seinen Füller. »Gehen wir zurück zum ungefähren Zeitpunkt der Empfängnis. Wenn wir es richtig angehen, fällt dir vielleicht etwas ein, woran du bisher nicht gedacht hast.«

»Ich hab die ganze letzte Woche darüber nachgedacht, Dr. Wade. Bei der letzten Untersuchung vor acht Tagen sagte der Arzt, daß ich in der sechzehnten Woche bin. Er sagte, die Empfängnis wäre irgendwann in der ersten Aprilhälfte gewesen. Ich hab dann versucht, mich zu erinnern, und ich hab den April noch gut im Kopf, weil Mike zu der Zeit von Verwandten von außerhalb Besuch hatte und wir uns vor Ostern nur zweimal gesehen haben. Und in der Woche drauf nur einmal. Einmal beim Frühlingsfest von St. Sebastian. Das hat am Tag stattgefunden, und wir waren keinen Moment miteinander allein. Das zweite Mal waren wir abends zusammen, und das war bei uns zu Hause im Schwimmbecken. Und dann haben wir uns einmal bei mir zu Hause einen Film im Fernsehen angeschaut. Aber da waren meine Eltern dabei. Wie soll da irgendwas gewesen sein? Selbst wenn ich's hinterher vergessen hätte, wie alle glauben. Wir hatten ja nicht mal eine Gelegenheit, Dr. Wade.«

»Ich weiß, Mary. Da ich aus Erfahrung weiß, daß viele junge Mädchen in einem Fall wie deinem beharrlich leugnen, Geschlechtsverkehr gehabt zu haben, mußte ich alle Möglichkeiten in Betracht ziehen, sogar daß du es verdrängst. Aber daran glaube ich nicht mehr.« Er machte eine kleine Pause. »Gut, Mary, jetzt denk nach. Hast du irgendwann im April, um Ostern herum, aus irgendeinem Grund Medikamente eingenommen?«

Sie überlegte einen Moment. »Nein.«

»Hast du eine Spritze bekommen? Oder bist du geimpft worden - gegen die Grippe oder Kinderlähmung oder so etwas?«

»Nein.«

Er machte sich Notizen. »Hast du sonst etwas eingenommen? Vitamine, Hustensaft, Aspirin?«

»Überhaupt nichts, Dr. Wade. Im April ist es mir ja noch gutgegangen.«

»Okay.« Er schwieg nachdenklich. »Hast du dich vielleicht irgendwie verletzt? Bist mit dem Fuß in einen Nagel gestiegen oder so etwas?«

»Nein, überhaupt nichts.«

Er legte den Füller weg und spielte mit dem Gedanken, seine Aktentasche hervorzuholen. Darin waren die Notizen, die er sich bei Dr. Henderson gemacht hatte. Mit ihrer Hilfe hätte er sein Gedächtnis auffrischen und feststellen können, was für mögliche Aktivatoren es noch gab. Aber er wollte Mary nicht beunruhigen. Er -

»Das einzige, was mir im April passiert ist, Dr. Wade, war im Schwimmbecken bei uns zu Hause, als Mike und ich an dem Abend badeten. Da gab's bei der Beckenbeleuchtung einen Kurzschluß, und ich kriegte einen elektrischen Schlag.«

»Was?«

»Ja, ich hab mich fürchterlich erschrocken, aber mir ist nichts passiert. Meine Mutter sagte, eine Frau wäre mal umgekommen, als sie in einem Hotel -«

»Du hast einen elektrischen Schlag bekommen?«

»Ja. Warum?«

Jonas war selbst wie vom Schlag gerührt. Er hatte Mühe, seine Ruhe zu bewahren. Um seine Erregung zu verbergen, lehnte er sich in seinem Sessel zurück und faltete fest die Hände.

»Wann ist das passiert? Möglichst genau, bitte.«

»Ein paar Tage vor Ostern.«

»Was genau ist passiert? Du warst mit Mike im Schwimmbecken -«

»Nein, nur ich war im Becken. Mike stand oben auf dem Sprungbrett. Es war dunkel, drum hatten wir die Beleuchtung angemacht. Ich weiß nicht, auf einmal fühlte sich das Wasser ganz komisch an, ich kann's nicht beschreiben. Ich bekam einen Riesenschreck und fing an zu schreien. Dann kriegte ich plötzlich keine Luft mehr. Ich erinnere mich, daß Mike mich rausgezogen hat und mir auf den Rücken klopfte. Das war alles.«

Jonas Wade krampfte die Hände so fest ineinander, daß sie weiß anliefen. Das war unglaublich. War es möglich, daß er jetzt alles beisammen hatte?

Bis zu diesem Moment hatte Jonas sich eiserne Zurückhaltung auferlegt und sich nicht gestattet, seinen Hoffnungen freien Lauf zu lassen. Sollte der Traum jetzt Wirklichkeit werden: der aufregendste medizinische Bericht seit - ja, seit wann?

»Dr. Wade?«

Er sah sie an. Wie sollte er es angehen? Wem sollte er seinen Befund zeigen? Welcher Zeitschrift sollte er -

»Dr. Wade?«

»Entschuldige, Mary, mir kam bei dem, was du eben sagtest, eine Erinnerung.« Er setzte wieder sein Arztlächeln auf.

Doch die anfängliche Erregung über das, was er von Mary Ann McFarland gehört hatte, wandelte sich rasch in tiefe Beunruhigung. Die beiden neuen Faktoren, der festgestellte

Herzschlag des Embryos und der elektrische Schlag, die seine These von einer Parthenogenese untermauerten, weckten auch neue Ängste und Befürchtungen. Jetzt konnte es sich nicht mehr um eine wuchernde Gewebemasse, um einen Tumor handeln, der operativ entfernt werden konnte. Es war ein wahrhaft parthenogenetischer Fötus, der da heranwuchs, aber

- war er gesund und normal?

Impulsiv griff Jonas zum Telefon. »Ich versuche jetzt noch einmal, deine Eltern zu erreichen, Mary.«

Im Wohnzimmer war es dunkel geworden. Keiner machte Licht. Ted McFarland saß mit gesenktem Kopf und fragte sich, ob er wirklich alles gesagt hatte. Das Schweigen schien ihm hohl und gespannt, als verlange es nach weiteren Worten. Aber es fielen ihm keine mehr ein.

Lucille, die tief in ihrem Sessel lag und zur schattendunklen Decke hinaufstarrte, hegte die bedrückende Befürchtung, daß zuviel gesagt worden war. Und doch war das eine, was Lucille am dringendsten hatte sagen wollen - es tut mir leid -, nicht ausgesprochen worden.

Mary spürte die Spannung, merkte, daß ihre Eltern mit ihren Emotionen zu kämpfen hatten. Ted, der mit hängendem Kopf und gefalteten Händen dasaß, schien zu beten, und Lucille, dachte Mary, sah aus wie die leidende Dienerin Gottes.

Es war so gut gegangen, wie zu erwarten gewesen war. Vielleicht sogar besser. Höflich und überaus dankbar waren sie in Dr. Wades Praxis erschienen, sehr darauf bedacht, ihm zu zeigen, daß sie es ihm nicht verübelten, daß er der einzige war, dem ihre Tochter Vertrauen schenkte. Sie hatten Platz genommen, und ein Weilchen hatten sie alle vier miteinander gesprochen, wenn auch mit einiger Verlegenheit. Dr. Wade hatte merkwürdig steif und gestelzt gewirkt, als fühle er sich gar nicht wohl und hätte das Verlangen, so schnell wie möglich zu gehen.

Zuerst hatten die drei Erwachsenen Mary zu überreden versucht, wieder ins St. Anne's zurückzukehren. Dann hatte ihr Dr. Wade einen Vortrag darüber gehalten, was eine schwangere Frau zu beachten, wie sie sich zu pflegen hatte, und ihr danach den nächsten Untersuchungstermin auf einen Zettel geschrieben.

Auf der Heimfahrt hatten Mary und ihre Eltern kaum miteinander gesprochen, aber sobald sie zu Hause gewesen waren, hatte Lucille gesagt: »Amy darf von alledem nichts erfahren.«

»Wie willst du es ihr denn verheimlichen?« fragte Mary.

»Wenn wir dich nicht wegschicken können, schicken wir eben deine Schwester weg. Heute übernachtet sie bei Melody. Bis morgen wird mir schon etwas einfallen.«

Mary wollte gerade Protest erheben, als ihr Vater ganz ruhig sagte: »Amy bleibt hier, Lucille. Sie muß es erfahren. Es ist an der Zeit, daß sie die Wahrheit erfährt.«

»Nein!« Lucille war entsetzt. »Nein, das lasse ich nicht zu. Sie ist noch zu klein. Das ist zuviel für sie.«

»Sie ist fast dreizehn Jahre alt, Lucille. Es kann ihr nur guttun, wenn sie Bescheid weiß.«

»Nein, sie soll unschuldig bleiben. Sie tritt nächstes Jahr in Schwester Agathas Orden ein -«

Ted schüttelte nur den Kopf, und Lucille gab auf.

Danach sprachen sie von anderen Dingen, von der Schule, von der Kirche, von all den Orten und Anlässen, wo Mary sich der Öffentlichkeit zeigen mußte. Mary, die über diese Fragen gar nicht weiter nachgedacht hatte, äußerte sich kaum dazu. Sie hatte nur gewußt, daß sie nach Hause wollte. Alles, was damit zusammenhing - der regelmäßige Kirchgang, die Fahrten mit ihrer Mutter zum Supermarkt -, wollte sie einfach von Tag zu Tag bewältigen.

Jetzt hatten sie sich alle leer geredet. Das Haus war dunkel und still. Mary stand auf. Ted hob den Kopf. Sie hatte den Eindruck, daß er zu lächeln versuchte.

»Ich geh in mein Zimmer«, sagte sie leise und nahm ihren Koffer.

Ted sprang sofort auf und packte den Koffer so beflissen wie ein Page, der auf ein Trinkgeld hofft.

Mary wandte sich Lucille zu. »Ich hab Hunger, Mutter. Was gibt's zum Abendessen?«

Sie telefonierte von der Küche aus. »Germaine? Ich bin's. Ich bin wieder zu Hause.«

Germaines Stimme, die so klar klang, als wäre die Freundin mit ihr in einem Zimmer, tröstete sie sofort.

»Mary? Du bist zu Hause? Wieso denn?«

Sie ist ganz nahe, dachte Mary und legte beide Hände fest um den Hörer. Das ist das Gute daran, zu Hause zu sein. Germaine ist in der Nähe. »Ich wollte nicht mehr bleiben. Ich bin heute nachmittag heimgekommen, und ich geh nicht wieder dahin zurück.«

»Ach, Mensch, toll! Dann kriegst du's hier, in Tarzana?«

»Ja. Ich will es haben, Germaine. Ich will mein Kind haben.«

Schweigen.

»Germaine?«

Eine leichte Veränderung in der Stimme. Vorsicht. »Und was sagen deine Eltern dazu?«

Mary sah sich in der Küche um. Das Geschirr war noch nicht gespült. Ein Teller mit kalten Spaghetti, die schon ganz verklebt waren, stand auf der Anrichte.

»Ich weiß nicht genau. Wir haben ein bißchen miteinander geredet, aber sie haben nicht viel gesagt. Beim Essen war's ziemlich peinlich, aber das wird schon wieder werden.«