»Ach, Mary, ich freu mich so, daß du wieder da bist. Ich war richtig einsam.«
»Germaine?«
»Ja?«
»Hast du Mike mal gesehen?«
Pause. »Nur zwei- oder dreimal in der Schule, Mary. Er hat Chemie und englische Literatur. Ich treffe ihn manchmal, wenn ich zu meinem Kurs über amerikanische Verfassung gehe.«
»Amerikanische Verfassung?«
»Das ist ein neuer Kurs. Im September nehme ich politische Wissenschaften, und da ist amerikanische Verfassung Voraussetzung. Häuptling Knopfnase gibt den Kurs.«
»Hat er was zu dir gesagt, Germaine? Über mich?«
»Die alte Knopfnase redet mit keinem ein privates Wort.«
»Germaine -«
»Nein, Mary, Mike hat nichts zu mir gesagt. Du weißt doch, er mag mich nicht.«
»Und die anderen?«
»Keine Ahnung, Mary. Marcie ist außer mir die einzige, die dieses Jahr Sommer kur se nimmt. Die anderen sind wahrscheinlich jeden Tag in Malibu.«
»Germaine, hat mal jemand gefragt -«
»Nicht direkt, aber sie sind bestimmt alle neugierig. Sheila Brabent hat mich vor zwei Wochen mal angerufen und gefragt, ob's stimmt. Ausgerechnet die.«
»Und was hast du gesagt?«
»Na ja, Mary, ich mußte >ja< sagen. Es stimmt ja, oder? Du bist schwanger, nicht?«
»Ja, es stimmt, aber .« Mary seufzte.
»Mary?«
»Ja?«
»Wann kommst du mal zu mir. Es ist verdammt langweilig ohne dich. Rudy ist nach Mississippi gefahren, zu einem Riesenprotestmarsch. Ohne euch beide bin ich total vereinsamt. Meine Mutter fragt, ob du nicht Lust hast, mal zum Essen zu kommen. Wann kannst du kommen?«
Mary fühlte sich etwas besser, nachdem sie aufgelegt hatte, aber nicht so viel besser, wie sie gehofft hatte. Sie mußte eben Geduld haben, dachte sie. Sie hatte ja noch fast fünf Monate, um sich an die neue Situation zu gewöhnen und Möglichkeiten zu finden, mit ihr fertig zu werden. Gott sei Dank, daß wenigstens Germaine sich wie immer verhielt.
Sie wählte die ersten drei Zahlen von Mikes Nummer und legte wieder auf. Noch nicht. Nicht gleich an ihrem ersten Abend zu Hause. Erst wollte sie sich wieder eingewöhnen, dann würde sie mit ihm reden und alles in Ordnung bringen.
Mary lehnte sich an die kühle Küchenwand und schloß die Augen. Vor zwei Monaten hatte sie genau an dieser selben Stelle eine Entscheidung getroffen, und es war die falsche gewesen. Sie drehte den Kopf und sah zum Telefon. Er hat mich vergessen, dachte sie.
Mike suchte im Dunklen nach dem Lichtschalter und drückte ihn herunter. Als das Licht aufflammte, schloß er geblendet die Augen und tappte blind zum Waschbecken. Das kalte
Wasser tat gut. Viel Seife. Er seifte sich bis zu den Ellbogen ein wie ein Chirurg vor der Operation, und dann spülte und spülte er und vermied es dabei die ganze Zeit, den Burschen im Spiegel anzusehen.
Als er fertig war und sich abtrocknete, dachte er mißmutig, Herrgott noch mal, was ist eigentlich in mich gefahren? Er hängte das Handtuch ordentlich wieder über den Halter und sah endlich in den Spiegel, um aufmerksam sein Gesicht zu mustern.
Weicher Flaum bedeckte seine Wangen, aber sein Kinn war immer noch so zart und glatt wie das eines Säuglings. Keine Spur von einem Bart. Er erinnerte sich an den Vortrag, den Bruder Nikodemus ihnen in der siebenten Klasse über die Sünde Onans gehalten hatte.
»Ein sicheres Zeichen dafür, daß jemand dieser Sünde frönt, ist, daß er sehr spät einen Bart bekommt, manchmal sogar überhaupt nicht. Das ist eine Tatsache, Jungen, da gibt's nichts zu grinsen. Die Selbstberührung führt zu einer unnatürlichen Freisetzung bestimmter chemischer Stoffe, die eigentlich der Anregung des Bartwuchses dienen sollten. Da könnt ihr jeden Arzt fragen. Die Selbstberührung ist eine Sünde und eine Beleidigung Gottes, die sich nicht verbergen läßt. Jeder kann euch deutlich vom Gesicht ablesen, ob ihr so etwas tut.«
»Ja, klar ...« murmelte Mike, während er sich mit der Hand über das Kinn strich. Die Jungen der St. Sebastian Schule hatten es damals nicht geglaubt und glaubten es auch jetzt nicht. Trotzdem, er würde sich viel mehr als Mann fühlen, wenn er endlich einen Bart bekäme.
Mike knipste das Licht aus und ging in sein Zimmer zurück. Zwei Dinge quälten ihn, als er sich wieder hinlegte, und nahmen ihm den Schlaf. Das eine war, daß er sich nachgege-ben hatte und nun morgen nicht zur Kommunion gehen konnte. Das andere war Mary.
Die Arme unter dem Kopf verschränkt, versuchte er, wie er das jeden Abend tat, sich Mary vorzustellen. Und während er ihr Bild an die schwarze Zimmerdecke projizierte, bemühte er sich, wie er das ebenfalls jeden Abend tat, den Wirrwarr seiner Gefühle auseinanderzuzupfen, Ordnung zu schaffen, zu verstehen, was in ihm vorging. Am liebsten hätte er eine säuberliche Liste aufgestellt.
Er war zornig. Das lag auf der Hand. Aber auf wen? Auf Mary vielleicht. Auf sich selbst ganz sicher. Und am meisten auf den Kerl, der ihr das Kind gemacht hatte. Und er war unglücklich. Er hatte Sehnsucht nach ihr. Er hielt es kaum aus vor Sehnsucht. Andere Mädchen interessierten ihn nicht. Er gehörte zu Mary. Neugier. Warum hatte sie es getan und mit wem? Sexuelle Begierde. Er begehrte sie noch genauso heftig wie zuvor, verlangte nach der verbotenen Frucht, die nun in unerreichbare Ferne gerückt zu sein schien. Und etwas wie Scheu war da, vor Mary, der Schwangeren.
Er war geplagt von dem Verlangen, ihr zu verzeihen, aber zu stolz, den ersten Schritt zu tun.
Mit einem Ruck wälzte er sich herum und schlug mit der Faust in sein Kopfkissen. Er war tief getroffen gewesen, als er heute von seinem Vater gehört hatte, daß sie nach Hause zurückgekehrt war, ohne sich bei ihm zu melden. Jetzt war alles noch schlimmer geworden. Solange Mary fort gewesen war, hatte Mike seinen Kummer und seine tiefe Niedergeschlagenheit beherrschen können; jetzt, wo sie wieder da war, kam alles von neuem hoch. Erst der Impuls, sie anzurufen, sie zu küssen, mit ihr zu weinen. Dann Wut. Sie hatte ihn belogen. Danach der Wunsch, sich zu ihr zu setzen und ruhig zu fragen: Warum, Mary? Warum ein anderer und nicht ich?
Hundertmal war er drauf und dran gewesen, im St. Anne's anzurufen. Aber immer, wenn er angefangen hatte zu wählen, hatte er wieder aufgelegt. Hätte er sie nur vergessen können. Warum schnappte er sich nicht einfach die dicke Sherry, die ihm hinterherrannte wie ein Hündchen und von der er bestimmt alles kriegen konnte, was er wollte? Oder Sheila Brabent mit dem großen Busen.
Warum Mary?
Wieder schlug er ins Kissen.
Dann seine Freunde. Diese fürchterliche Entscheidung, ob er die Verantwortung für Marys Schwangerschaft auf sich nehmen oder die Wahrheit sagen und zugeben sollte, daß er nur angegeben hatte. Er wußte nicht, was er tun sollte.
Sein Vater, der von der ganzen Geschichte völlig niedergeschmettert war, bestand immer noch darauf, daß Mike zu ihr stehen und sie heiraten sollte. Und Pater Crispin forderte ihn immer wieder auf, er solle seine Sünde endlich beichten, und glaubte ihm nicht, daß er mit Marys Schwangerschaft nichts zu tun hatte.
Mike hoffte jetzt verzweifelt, daß das Kind gleich nach der Geburt weggegeben würde und zwischen ihm und Mary alles wieder so werden würde, wie es gewesen war. Sie hatte ihn belogen, sie hatte kein Vertrauen zu ihm gehabt, aber er liebte sie immer noch. Er liebte sie mehr denn je.
11
Der Leichnam lag auf dem Tisch, nackt bis auf ein Lendentuch, den linken Arm abgespreizt, so daß die Sehnen und Muskeln deutlich hervortraten. Acht bärtige Männer standen in staunender Aufmerksamkeit um ihn herum. Es war eine hervorragende Reproduktion von Rembrandts Anatomiestunde bei Dr. Tulp, und Bernie Schwartz war gefesselt von der Darstellung.
Jonas, der dem Freund in seinem Arbeitszimmer gegenübersaß, wartete ungeduldig auf einen Kommentar. Als das Schweigen sich in die Länge zog, hielt er es nicht mehr aus. »Und?« fragte er. »Was sagst du?«
Bernie wandte den Blick von dem Bild und richtete ihn auf Jonas. »Du hast mich überzeugt.«
Jonas entspannte sich etwas. »Dann bin ich also nicht verrückt.«
Bernie lächelte. »Nein, mein Freund, das bist du nicht. Das alles ist doch nicht zu widerlegen.« Er wies mit seiner kurzen, weichen Hand auf die Papiere, die vor ihm auf dem Sofa ausgebreitet lagen. Er hatte die vergangene halbe Stunde damit zugebracht, Jonas Wades Aufzeichnungen und die umfangreiche Bibliographie durchzusehen. »Ich muß sagen«, fügte er hinzu, »ich bin beeindruckt. Ich hätte das nicht für möglich gehalten. Vor zwei Monaten war ich noch sicher, du hättest einen Floh im Ohr. Jetzt hast du mich überzeugt.«
Jonas war erregt. Die Tatsache, daß Bernie Schwartz seine Theorie akzeptierte, beflügelte seinen Ehrgeiz. Er stand auf
und ging ein paarmal im Zimmer hin und her.
»Mir macht die Sache angst, Bernie.«
»Wieso?«
Jonas schloß die Zimmertür, als draußen jemand den Fernsehapparat aufdrehte, und kehrte zu seinem Sessel zurück.
»Ich war die ganze Zeit ziemlich sicher«, sagte er, »daß es nur eine formlose Gewebemasse ist, eine Wucherung. Ich hatte vor, den behandelnden Arzt im St. Anne's aufzusuchen und ihm meinen Verdacht mitzuteilen. Ich wollte sie dann in ein paar Wochen operieren. Ich rechnete mit einem Dermoid. Aber dann -« er schaute einen Moment in sein Whiskyglas, dann stellte er es auf den Tisch -, »dann erschien sie in meiner Praxis und sagte, sie hätte seinen Herzschlag gehört.«
»Na und? Was ist daran so beängstigend?«
»Es ist ein parthenogenetischer Fötus, Bernie. Dir ist doch klar, was das bedeutet? Lieber Gott, wer weiß, was da herauskommt.«
»Na, was man in solchen Zweifelsfällen macht, weißt du doch besser als ich. Mach ein paar Röntgenaufnahmen.«
»Das kann ich nicht. Es ist zu früh. Vor der vierundzwanzigsten Woche kann man nicht röntgen. Die Strahlung könnte dem Fötus schaden.«
»Dann kannst du nur warten. Ich bin sicher, das Kind ist normal, Jonas -«
»Und woher nimmst du diese Sicherheit?« Ein Anflug von Ärger schwang in seiner Stimme. »Im Labor wurden bei Stimulation durch Stromschlag gesunde Mäuse hervorgebracht. Es wurden aber auch Mutationen geboren.« Jonas schwieg einen Moment, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Mutationen, Bernie!«
»Es hat einen Herzschlag -«
»Auch eine Mißgeburt kann einen Herzschlag haben, Herrgott noch mal!«
Die beiden Männer sahen sich schweigend an.
»Es ist eine Riesenverantwortung«, murmelte Jonas schließlich. »Ich muß mit den Eltern sprechen. Sie müssen gewarnt werden.«
»Was redest du da, Jonas?« fragte Bernie scharf. »Sprichst du von Abtreibung?«
Jonas zog die Brauen hoch. »Aber nein! Der Gedanke ist mir überhaupt nicht gekommen. Außerdem kommt das sowieso nicht in Frage. Das Kind kann deformiert sein, aber es muß nicht so sein, und im Augenblick können wir nicht röntgen. Bis wir Aufnahmen machen können, ist es sowieso zu spät. Dann ist eine Abtreibung nicht mehr möglich.«
»Selbst wenn das Kind deformiert ist?«
»Dem Gesetz nach ist ein Embryo mit sechs Monaten lebensfähig, Bernie. Kein Gericht weit und breit würde einem Abbruch aufgrund einer Deformierung des Kindes zustimmen. Da müßte ich schon nachweisen, daß das Leben der Mutter auf dem Spiel steht.«
»Du hast ja noch Zeit, Jonas.«
Wieder sprang Jonas auf und lief ein paarmal rastlos hin und her. Er konnte nicht auf die Röntgenaufnahmen warten; bis dahin waren es noch acht oder neun Wochen. Er mußte früher Gewißheit haben. Er mußte sie jetzt haben. Abrupt blieb er stehen.
»Bernie, ich möchte eine Fruchtwasseruntersuchung machen.«
»Was? Aber Jonas, das ist doch eine äußerst heikle Geschichte. Die Untersuchung befindet sich noch in der experimentellen Phase und ist äußerst riskant.«
»Ihr macht sie doch bei Müttern mit negativem Rhesusfaktor, oder nicht?«
»Zunächst einmal, Jonas: Ich mache gar nichts. Die Fruchtwasseruntersuchung wird in Krankenhäusern von Spezialisten durchgeführt, und die Blutuntersuchungen werden im Labor gemacht. Kann sein, daß einige Leute in meiner Abteilung mit Fruchtwasser experimentieren und genetische Untersuchungen machen, aber ich habe so was nie gesehen. Im übrigen wird so eine Untersuchung nur gemacht, wenn es auf Leben und Tod geht. Nicht um die Neugier zu befriedigen.«
»Aber du könntest die genetischen Untersuchungen machen, Bernie, wenn du eine Probe des Fruchtwassers hättest?«
»Du meinst, ob ich mir die Chromosomen anschauen und feststellen könnte, ob das Kind deformiert ist?«
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