Ted nickte bedächtig. »Würden Sie mir noch einmal erklären, Dr. Wade, warum Sie glauben, daß das Kind ein Mädchen werden wird?«

»Ich werde es Ihnen zeigen.«

»Unglaublich«, murmelte Ted wenig später, während er kopfschüttelnd auf die Skizze sah, die Jonas Wade angefertigt hatte. Lucille beugte sich vor und betrachtete die Illustration, ohne ein Wort zu sagen.

Jonas überließ ihnen das Papier und lehnte sich im Sofa zurück. »Das Geschlecht des Kindes wird durch die Chromosomen im Spermium bestimmt. Enthält es ein Y-Chromosom, so wird das Kind ein Junge. In diesem Fall fand die Befruchtung nicht durch ein Spermium statt. Im Ei sind also nur die weiblichen X-Chromosomen enthalten. Darum muß das Kind weiblich werden.«

Er schaute zu Mary hinüber. Er hätte gern gewußt, was in ihr vorging, doch ihr Gesicht war unergründlich.

Er irrt sich, dachte sie.

»Dr. Wade«, sagte Lucille stockend, »Sie glauben, daß es durch den Stromschlag damals im Schwimmbecken zu der Schwangerschaft gekommen ist?«

»Ja.«

»Aber -« ihre Augen zeigten tiefe Verwirrung, und in diesem Moment sah Lucille jünger und kindlicher aus als ihre Tochter - »kann das Kind denn dann eine Seele haben?«

Hier fühlte sich Jonas Wade auf unsicherem Boden. Über wissenschaftliche Fakten und Analysen konnte er mit Sicherheit und Überzeugung sprechen, diese Frage jedoch brachte ihn aus dem Konzept. Automatisch sah er den Priester an.

Und Pater Crispin, der den hilfesuchenden Blick auffing, versicherte rasch: »Selbstverständlich hat es eine Seele, Mrs. McFarland.«

»Aber - es wurde doch nicht auf normalem Weg gezeugt.«

»Dennoch ist es ein Leben, und alles Leben kommt von Gott. Er wählte seine Werkzeuge und seine Wege aus Gründen, die uns unerforschlich sind -« Pater Crispin brach plötzlich ab und räusperte sich. »Das heißt aber noch lange nicht, daß ich diesen Unsinn glaube«, fügte er hastig hinzu. »Doch selbst wenn es wahr wäre, Mrs. McFarland, wäre dieses Kind ein Kind Gottes.«

Die Unterstützung, die Jonas Wade sich von Pater Crispin erhofft hatte, war ausgeblieben. Er setzte seine nächsten Worte vorsichtig. »Das Kind wird ganz normal werden, Mrs. McFarland. Es gibt keinen Grund, warum es nicht so sein sollte. In einigen Wochen werde ich Röntgenaufnahmen machen können, und dann können wir den Fötus sehen.«

Jonas blickte wieder zu Mary, die immer noch so unbewegt dasaß, als ginge sie das alles nichts an.

»Es besteht jedoch eine, wenn auch äußerst geringe Gefahr, daß Probleme auftreten können. Deshalb würde ich vorsichtshalber -«

»Probleme?« fragte Lucille. »Was für Probleme?«

»Ich will damit nur sagen, daß wir es hier mit einem Sonderfall zu tun haben, der besonderer Aufmerksamkeit bedarf. Darum hätte ich gern Ihre Erlaubnis, vorsichtshalber eine bestimmte Untersuchung bei Ihrer Tochter vorzunehmen.«

»Was ist das für eine Untersuchung?« fragte Ted.

»Es handelt sich um eine Fruchtwasseruntersuchung. Dabei wird eine Probe des Fruchtwassers entnommen und mikroskopisch untersucht. Man macht diese Untersuchung vor allem bei Müttern mit einem negativen Rhesusfaktor, um festzustellen, ob das Kind durch die Antikörper der Mutter gefährdet ist. Wir können uns auf diese Weise die Chromosomenstruktur des Kindes ansehen, um uns zu vergewissern, daß seine Entwicklung einen normalen Verlauf nimmt.«

»Wie zuverlässig ist die Untersuchung?«

»Sie befindet sich augenblicklich noch im experimentellen Stadium, aber -«

Lucille schüttelte den Kopf. »Keine Experimente mit meiner Tochter. Sie hat genug durchgemacht.«

»Mrs. McFarland, die Fruchtwasseruntersuchung wird jedes Jahr bei Hunderten von Frauen durchgeführt -«

»Ist sie mit Gefahren verbunden?«

»Ach, Gefahren gibt es bei jeder -«

»Nein, Dr. Wade, eine solche Untersuchung erlaube ich nicht.«

Jonas Wade kämpfte. »Es ist zum Besten Ihrer Tochter, Mrs. McFarland, und zum Wohl des Kindes.«

Sie hielt die kalten blauen Augen auf ihn gerichtet. »Und wenn sich herausstellen sollte, daß das Kind geschädigt ist?«

Er starrte sie an.

»Dr. Wade«, schaltete sich Ted ein, »ich glaube, meine Frau will damit sagen, daß man in einem solchen Fall doch sowieso nichts unternehmen könnte. Warum dann also eine gefährliche Untersuchung? Ich meine, wenn sich herausstellen sollte, daß das Kind geschädigt ist, würde sich doch an ihrer Behandlung Marys nichts ändern, nicht wahr?«

Jonas ließ sich die Frage durch den Kopf gehen, nahm den abwehrenden Blick Lucilles zur Kenntnis und sagte: »Nein.«

»Dr. Wade -«

Alle Augen richteten sich auf Mike. Alle waren erstaunt, daß er sich in das Gespräch einmischte. Sein Gesicht war bedrückt.

»Wie wird es aussehen, Dr. Wade?«

»Was meinst du?«

»Wie wird das Kind aussehen?«

»Oh.« Jonas war unbehaglich. Er fragte sich, was in dem Kopf des Jungen vorging. »Marys Chromosomen haben sich getrennt und sind dann wieder miteinander verschmolzen. Da kein Spermium beteiligt war, das neue Anlagen mitgebracht hätte, wird das Kind aussehen wie Mary.«

Mike drehte langsam den Kopf. Mit einem seltsamen Ausdruck in den grauen Augen sah er Mary an. »Wie eine Kopie, meinen Sie?«

»Ja ... Mary wird gewissermaßen sich selbst zur Welt bringen.« Jonas hörte wieder Dorothy Hendersons Stimme: Das sind keine Nachkommen von Primus; sie sind Primus.

Die sieben Menschen im sonnendurchfluteten Zimmer schwiegen, unsicher und verwirrt jeder von ihnen; bemüht, sich mit dem, was Jonas Wade ihnen mitgeteilt hatte, auseinanderzusetzen. Nur Mary saß in Ruhe und Gelassenheit, im Schutz eines inneren Friedens, der sie vor der kalten Realität abschirmte.

Pater Crispin focht den schwersten Kampf aus. Im Gegensatz zu den anderen, die sich bemühten, Jonas Wades Theorie zu akzeptieren, wehrte er sich mit aller Kraft gegen sie.

»Sie sehen also«, sagte Jonas Wade schließlich, »Mary hat kein Unrecht begangen. Sie hat die Wahrheit gesagt.«

Ein Schimmer von Dankbarkeit glomm in Lucilles blauen Augen, aber sie brachte es noch immer nicht über sich, ihre Tochter anzusehen. Statt dessen richtete sie ihren Blick auf Ted und lächelte. Es war eine Erleichterung, Jonas Wades Theorie zu akzeptieren.

»Wenn das Kind geboren ist«, bemerkte Jonas, während er seine Unterlagen zusammenpackte, »wird es mir leichtfallen, das alles durch einige einfache diagnostische Untersuchungen und Tests zu bestätigen -«

»Nein, Dr. Wade.«

»Diese Tests sind nicht gefährlich, Mrs. McFarland. Es bedarf lediglich einer Blutprobe, um eine Genuntersuchung durchzuführen, und einer kleinen Hautverpflanzung vom Säugling auf -«

»Das meinte ich nicht«, unterbrach Lucille und stand auf. »Wir behalten das Kind nicht.«

Jonas starrte sie verblüfft an.

»Wir haben das genau besprochen, Dr. Wade«, kam Ted seiner Frau zu Hilfe. »Wir denken, es ist für Mary das beste, wenn wir das Kind zur Adoption freigeben.«

Jonas sah Mary an, deren Gesicht völlig unbewegt blieb. Panik stieg in ihm auf, und er kämpfte sie nieder. »Sind sie da wirklich sicher? Es ist noch früh. Die Trennung von Mutter und Kind könnte traumatische -«

»Ich muß der Familie McFarland recht geben«, ließ sich Pater Crispin vernehmen. »Mary ist gerade erst siebzehn. Was für eine Mutter könnte sie diesem Kind sein? Noch nicht einmal mit der Schule fertig. Das Kind hat es bei Adoptiveltern sicher besser.«

Jonas suchte krampfhaft nach Argumenten, aber es fiel ihn nur eines ein, und das konnte er nicht sagen: Daß die Freigabe des Kindes zur Adoption es ihm unmöglich machen würde, seinen Bericht fertigzustellen. Denn, um seine Theorie zu veröffentlichen, brauchte er eine genetische Untersuchung des Kindes und die Hautverpflanzung. Wenn das Kind weggegeben würde, machte das alle seine Pläne zunichte.

»Nun«, sagte er, während er seine Aktentasche schloß, »Sie haben ja noch Zeit, um sich das zu überlegen. Ich bin überzeugt, Sie werden Ihre Meinung ändern.« Er sah zu dem Mädchen hinunter, das reglos in seinem Sessel saß. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Mary sich von ihrem Kind wird trennen wollen.« Er schaute sie hoffnungsvoll an, aber sie reagierte überhaupt nicht. »Wie dem auch sei, in zwei Wochen werde ich Mary röntgen und den Schwangerschaftsverlauf beobachten.«

Sie traten alle gemeinsam hinaus in den glühendheißen Nachmittag, Nathan Holland froh und dankbar, daß die Last von seinen Schultern genommen war, und Mike noch immer verwirrt und verwundert über das, was er gehört hatte. Er wurde sich bewußt, daß er nicht fähig war, sich umzudrehen und Mary noch einmal anzusehen. Statt der heißen Liebe und der Sehnsucht, die er vor dem Gespräch noch empfunden hatte, fühlte er jetzt eine merkwürdige Scheu; und Neugier mischte sich mit einer Art schaudernder Ablehnung. Er fand Mary Ann McFarland plötzlich gar nicht mehr begehrenswert.

Pater Crispin ging im Zorn, und das aus zwei Gründen: einmal, weil alle Jonas Wade geglaubt hatten, und weil der Arzt offensichtlich mehr Einfluß besaß als er, ihr Priester. Ein weiteres Symptom ...

Als alle abgefahren waren und Mary in ihrem Zimmer verschwunden war, flüchtete sich Lucille in die tröstliche Umarmung ihres Mannes. Sie legte den Kopf an seine Brust und sagte leise: »Oh, Ted, ich weiß nicht, ob ich erleichtert bin oder mehr Angst habe als vorher.«

15


Im Lampenschein saß Pater Crispin an seinem Schreibtisch im Pfarrhaus und arbeitete an der Predigt für den nächsten Morgen. Sie bereitete ihm Schwierigkeiten.

Viele seiner Gemeindemitglieder hatten in letzter Zeit ihrer Besorgnis und ihrem Unverständnis über die ökumenischen Bestrebungen des neuen Papstes Ausdruck gegeben. Die ultrakonservative Diözese Los Angeles nahm das Zusammentreten des zweiten Vatikanischen Konzils mit Mißtrauen zur Kenntnis und befürchtete umwälzende Veränderungen. Pater Crispin hatte beschlossen, seiner Gemeinde mit der Sonntagspredigt die anstehenden Fragen zu erläutern, und bemühte sich jetzt beim Schreiben um eine sachliche und objektive Darstellung.

Aber er konnte sich nicht konzentrieren.

Er nahm das Glas mit dem Whisky, das neben seinem Schreibblock stand, und ging zum Fenster. Er zog den Vorhang auf und sah geistesabwesend auf den dunkel und verlassen liegenden Parkplatz hinaus.

Zum erstenmal seit vielen Jahren dachte Pater Crispin an seinen alten Traum, der ihn vor dreißig Jahren, als er noch auf dem Seminar gewesen war, so beflügelt hatte. Jung und idealistisch damals, war er fest entschlossen gewesen, in den Orden der Franziskaner einzutreten. Die Einfachheit, die Armut, die Brüderlichkeit mit allen Wesen Gottes, die dieser

Orden praktizierte, hatten ihn so sehr angezogen, daß er kurzentschlossen um Aufnahme ersucht hatte. Aber da hatte sich seine Familie eingemischt, wohlhabender, alter Bostoner Adel. Seine Eltern waren entsetzt gewesen, daß ihr Sohn bereit war, sich mit einem solchen Leben in Bescheidenheit zu begnügen, anstatt nach dem Glanz der Bischofswürde zu streben. Als Lionel erkannte, was er seinen Eltern, die ihn schon in vollem Ornat vor sich gesehen hatten, damit antun würde, wenn er an seinem Plan festhielt, hatte er seinen Traum aufgegeben.

Er wandte sich vom Fenster ab und trat wieder an seinen Schreibtisch.

Von dem jugendlichen Idealismus, dem heißen Wunsch, den Armen und Leidenden dieser Welt zu helfen, war nichts geblieben. Er saß hier als ein behäbiger, dickbäuchiger alternder Priester, der die Werte, die ihm ehemals etwas gegolten hatten, aus den Augen verloren hatte.

Warum, Herr, dachte er mit Bitterkeit, muß ich gerade jetzt an diese Dinge denken?

Er wußte, warum. Mary Ann McFarland war schuld daran.

Pater Crispin ging müde zu einem der Ledersessel und ließ sich hineinfallen. Er starrte in den großen gemauerten Kamin, der nur Attrappe war, und dachte: Ich hätte das heute abend nicht tun sollen. Ich hätte nicht einfach aus dem Beichtstuhl gehen dürfen. Ich habe das Mädchen im Stich gelassen.

Den ganzen Abend schon war ihm die Begegnung im Kopf herumgegangen. Mary war zur Beichte zu ihm gekommen und hatte eine Liste harmloser kleiner Sünden vorgetragen -daß sie am Freitag Fleisch gegessen, daß sie Gottes Namen mißbraucht, ihr Abendgebet vergessen hatte -, doch die eine große Sünde, auf deren Geständnis Pater Crispin wartete, die hatte sie nicht erwähnt. Als er sie gedrängt hatte, hatte sie ihm widersprochen - in seinem Beichtstuhl! -, und er hatte schließlich das Fenster zugeschlagen und sich dem nächsten Beichtkind zugewandt. Als er danach zur anderen Seite zurückgekehrt war, hatte er wieder Marys beteuerndes Flüstern vernommen. Zum zweitenmal hatte er sich von ihr abgewandt, nachdem er sie ermahnt hatte, ihre Seele zu erforschen und erst dann in den Beichtstuhl zurückzukehren, wenn sie bereit war, sich zu ihrer Sünde zu bekennen. Wieder hatte sie ihm widersprochen, und eigensinnig hatte sie ihre Unschuld beteuert. Und er, ihr Beichtvater, hatte sich von seinem Zorn zur Unbeherrschtheit hinreißen lassen, war aufgestanden und davongegangen, ohne sich weiter um sie zu kümmern.