»Lionel, was bedrückt Sie noch?«
Pater Crispin rang um Ruhe. Während draußen der Oktoberwind ums Haus pfiff, starrte er in die Flammen des Kamins und bemühte sich, seine Ruhe zu finden. »Dr. Wade sagte, das Kind könne eventuell geschädigt sein. Deformiert.«
Der Bischof runzelte die Stirn. »Wie deformiert?«
Pater Crispin konnte dem Freund nicht in die Augen sehen. »Schlimm. Eine Mißgeburt vielleicht.«
»Ich verstehe .«
Das Heulen des Windes in den leeren Straßen schien stärker zu werden. Der Sommer war vorbei. Lionel Crispin griff nach dem Glas Sherry, das auf dem Tisch neben seinem Sessel stand. Der Bischof hatte es ihm bei seiner Ankunft vor mehr als einer Stunde eingeschenkt; erst jetzt hob Lionel Crispin es an seine Lippen und trank einen Schluck. Während er dem Wind lauschte und den Sherry auf der Zunge zergehen ließ, dachte er: Bald ist Allerheiligen, dann kommt Weihnachten, dann Neujahr, und dann ist der Januar da ...
Er fand es widersinnig, daß das höchste christliche Fest, Weihnachten, an dem neues Leben und neue Hoffnung gefeiert wurden, ausgerechnet in die kälteste Jahreszeit fiel, in der alles tot war und nirgends Hoffnung grünte. Nein, das war nicht richtig. Ostern war das höchste christliche Fest, die Feier der Wiederauferstehung. Zumindest sollte es so sein. Aber bei den Leuten hatte das Osterfest keine so hohe Bedeutung wie Weihnachten; aus irgendeinem Grund richteten sie ihr Augenmerk lieber auf die Geburt Christi als auf seine Überwindung des Todes ...
»Lionel?«
Pater Crispin schüttelte den Kopf. »Verzeihen Sie, Exzellenz, ich war in Gedanken.«
»Was belastet Sie so?«
Pater Crispin suchte nach den rechten Worten. Wie sollte er die eisige Furcht in Worten ausdrücken, die ihn einschnürte. Sie werden vielleicht eine Entscheidung über Leben und Tod treffen müssen, hatte Jonas Wade gesagt. Lionel Crispin erinnerte sich eines grauenvollen Erlebnisses, das noch gar nicht so lange zurücklag. Er war in das Haus eines seiner Gemeindemitglieder gerufen worden. Die Ehefrau hatte eine Frühgeburt und starke Blutungen. Pater Crispin war gerade noch rechtzeitig gekommen, um der Frau die letzte Ölung zu geben und das Neugeborene zu taufen - eine schreckliche Mißgeburt, die keinen Kopf gehabt hatte, nur einen dicken Halsstummel mit zwei hervorquellenden Augen und einem Mund, der wie ein blutiger Schlitz aussah. Es hatte gelebt, hatte sich in der Schale geregt, in die der Arzt es gelegt hatte, während die Mutter in ihrem Bett verblutet war. Pater Crispin hatte sich beinahe übergeben. Selbst jetzt noch schauderte ihn bei der Erinnerung.
»Ich fürchte mich«, sagte er leise.
»Wovor?«
»Vor der Entscheidung.« Er sah dem Bischof direkt in die Augen, und Michael Maloney erschrak beim Anblick der unverhüllten Furcht. »Dr. Wade sagte, die Entbindung könnte mit Komplikationen verbunden sein, und ich würde vielleicht zwischen Mutter und Kind entscheiden müssen.«
»Aber das kann doch für Sie kein Problem sein, Lionel. Sie kennen Ihre Pflicht.«
Ja, ich kenne sie, schrie es gequält in ihm. Aber ich will diese Verantwortung nicht auf mich nehmen. Wie kann ich dieses schöne junge Mädchen sterben lassen, nur um ein Wesen taufen zu können, das vielleicht keine Minute lang am Leben bleibt, das der Gestalt nach überhaupt kein Mensch ist und nicht einmal auf natürliche Weise gezeugt wurde? Wie vor ihm Lucille McFarland fragte er: »Exzellenz, kann es eine Seele haben?«
Der Bischof, der spürte, daß Pater Crispins Ängste sich auf ihn zu übertragen drohten, stand auf. Groß und schlank blieb er am Kamin stehen und drehte den schweren Ring an seiner rechten Hand.
»Das Kind hat eine Seele, Lionel, ganz gleich, welchen körperlichen Ursprungs es ist. Und Ihre Pflicht ist es, diese Seele zu retten, Lionel. Der körperliche Aspekt des Kindes, so grotesk er sein mag, darf Sie nicht beeinflussen.«
Der Bischof schwieg einen Moment. Sein langer Schatten lag dunkel auf dem wertvollen Orientteppich.
»Lionel«, sagte er behutsam. »Niemand hat Ihnen versprochen, daß das Amt des Priesters leicht sein würde. Die Verantwortung für das Seelenheil der Menschen zu tragen ist keine leichte Aufgabe. Es bedarf großen Mutes, Entscheidungen wie dieser ins Auge zu sehen. Auch ich mußte während meiner Zeit als Priester solche Entscheidungen auf mich nehmen, und sie belasten mich heute noch. Lionel -« Michael Maloney trat zu dem Freund und legte ihm die Hand auf die
Schulter - »ich weiß, was Sie durchmachen, und ich bin überzeugt, daß dies eine Prüfung ist, die Ihnen von Gott auferlegt wurde. Beten Sie zum Herrn und seiner heiligen Mutter. Sie werden Ihnen beistehen. Vertrauen Sie mir.«
Lionel Crispin stand auf und ging wieder zum Fenster. Er legte die Stirn an das kalte Glas und dachte: Bitte, Herr, laß es ein normales Kind sein. Gib ihm Augen, Nase und Mund und einen richtigen Kopf ...
Er spürte, wie sein Herz zitterte. Es war eine Vorahnung. Mary Ann McFarlands Kind würde grauenhaft entstellt zur Welt kommen, und er, Lionel Crispin, würde aufgerufen sein, es zu taufen, um diese Seele zu retten, die die ewige Gnade nicht verdiente ...
Das Haus war Mary nicht dunkel genug. Sie hatte die Vorhänge zugezogen, so daß das Mondlicht nicht in ihr Zimmer eindringen konnte. Dennoch wünschte sie, während sie bis zum Hals zugedeckt auf ihrem Bett lag, es wäre noch dunkler.
Wie tief muß man sich verstecken, fragte sie sich, wie finster muß es sein, bis man nicht mehr das Gefühl hat, daß die ganze Welt dich sehen kann und beobachtet?
Sie war nackt. Ihr Nachthemd lag unordentlich auf dem Boden. Sie hatte die Tagesdecke, die sie normalerweise abzog, wenn sie zu Bett ging, über der Bettdecke gelassen und bis zum Kinn hochgezogen.
Wie tief muß die Dunkelheit sein, wie viele Decken braucht man, wieviel Stille und Einsamkeit, ehe man sich seinem eigenen Körper zuwenden kann? Um die Nacktheit ging es nicht; es ging um das, was sie tun wollte.
Vergib mir, flüsterte sie vor sich hin und kam sich albern vor. Ich werde später um Vergebung bitten, nicht jetzt.
Ich kann meinen Arm oder meine Beine berühren, ohne mich schuldig fühlen zu müssen. Warum muß ich ein schlechtes Gewissen haben, wenn ich meinen Körper entdecken möchte? Er gehört doch mir, oder nicht? Er gehört mir, damit ich ihn berühre, erforsche und mich an ihm freue.
»Eine gute kleine Katholikin sorgt dafür, daß ihre Gedanken und Hände stets beschäftigt sind.« Schwester Michael, sechste Klasse.
»Wenn ihr die Versuchung spürt, euch selbst zu berühren, dann denkt an die Heilige Jungfrau.« Schwester Joan, achte Klasse.
»Der Gedanke an eine unkeusche Handlung ist ebenso sündhaft wie die Durchführung dieser Handlung.« Pater Crispin.
»Wenn man sich selbst berührt, muß der Herr Jesus weinen.« Schwester Joan.
Aber ich muß die Wahrheit wissen, dachte Mary verzweifelt. Ich dachte, der heilige Sebastian hätte es getan; aber Dr. Wade sagt, ich selbst habe es getan.
Ich muß es wissen ...
Sie schloß die Augen und stellte sich den heiligen Sebastian vor. Sie stellte sich vor, daß er dicht vor ihr stand, der Lendenschurz auf dem Boden zu seinen Füßen. Sie sah das Spiel des Mondlichts auf den Erhebungen und Mulden seines schönen Körpers. Die Blutstropfen, die aus seinen vielen Wunden rannen. Die dunklen, grüblerischen Augen, die sie traurig und liebevoll anblickten.
Zögernd und unsicher schob sie ihre Hand über die Wölbung ihres Schenkels.
Vergib mir, dachte sie wieder.
17
Der Wind tobte durch die Collins Street, daß die Telefonmasten wackelten. Das kleine Haus der Familie Massey war dunkel, Fenster und Türen waren fest geschlossen. In der Einfahrt stand Lucille McFarlands Chevrolet.
Die beiden Mädchen waren allein im Wohnzimmer. Nur eine dicke Kerze brannte auf dem niedrigen Tisch. Mary lag mit geschlossenen Augen auf dem Sofa und hörte Germaine zu, die ihr vorlas.
»... Das läßt mein Herz im Innern mutlos zusammenkauern.«
Das Taschenbuch lag aufgeschlagen auf ihren Knien. Sie las leise, mit singender Stimme, während Mary sich hin und wieder aufrichtete und ihre Gläser wieder mit Rotwein füllte.
»Blick ich dich ganz flüchtig nur an«, las Germaine weiter. »Die Stimme stirbt, eh sie laut wird, ja, die Zunge liegt wie gelähmt, auf einmal läuft mir Fieber unter der Haut entlang.« Sie machte eine kleine Pause, warf einen kurzen Blick auf Mary und fuhr dann in weichem Singsang zu lesen fort. »Und meine Augen weigern die Sicht, es überrauscht meine Ohren, mir bricht Schweiß aus, rinnt mir herab, es beben alle Glieder, fahler als trockne Gräser bin ich, einer Toten beinahe gleicht mein Aussehn .«
»Das ist sehr schön«, murmelte Mary. »Was ist das?«
Germaine hob den Kopf nicht, sondern ließ ihn über das Buch geneigt, so daß das herabströmende dunkle Haar ihr Gesicht verdeckte.
»Das ist ein Gedicht von Sappho.«
»Von wem?«
»Das war eine Dichterin im alten Griechenland. Sie schrieb Liebesgedichte.«
»Und wer war der glückliche Auserwählte?«
Germaine nahm ihr Glas, trank einen tiefen Schluck und antwortete dann: »Sie schrieb die Gedichte für eine Frau namens Atthis.«
Mary öffnete die Augen und sah die Freundin erstaunt an. »Ehrlich? Sie hat Liebesgedichte für eine Frau geschrieben?«
Germaine gab keine Antwort. Statt dessen klappte sie plötzlich das Buch zu und warf den Kopf zurück. Ihr Gesicht leuchtete in einem Lächeln. »Schenk mir noch was ein, Mary.«
Mary nahm die Flasche, zog den Korken heraus und goß Wein in beide Gläser. Sie war Alkohol nicht gewöhnt und fühlte sich von dem dunklen Rotwein in euphorische Stimmung versetzt.
»Also, wann wirst du jetzt geröntgt?« fragte Germaine.
»Nächste Woche.«
»Und was kann man dann sehen?«
»Vor allem das Skelett des Kindes.«
»Hast du Angst davor, Mary?«
»Nein - ich glaube nicht. Oh!« Sie drückte die Hand auf den Bauch. »Sie ist heute abend ganz schön wild. Das ist wahrscheinlich der Wein. Hier, fühl mal.« Sie nahm Germaines Hand und legte sie auf ihren Bauch. »Spürst du, wie sie strampelt?«
»Ja.« Germaine zog ihre Hand rasch wieder weg.
»Wir haben überhaupt noch keine Babysachen gekauft. Meine Eltern wollen das Kind zur Adoption freigeben, aber ich weiß noch nicht. Es muß doch möglich sein, daß ich es versorge und trotzdem zur Schule gehe.« Sie nahm Ihr Glas und trank. Es schien ihr immer wärmer zu werden. »Du könntest mir doch helfen, Germaine. Was meinst du?« Germaine blickte auf das Buch in ihren Händen. Sie schien fasziniert vom Gesicht der Frau, die auf dem Umschlag abgebildet war. »Ich hab keine Ahnung, wie man mit kleinen Kindern umgeht, Mary«, antwortete sie abwehrend. »Ich bin kein mütterlicher Typ. Ich glaube nicht, daß ich jemals Kinder haben werde.«
Mary drehte sich etwas mühsam auf die Seite, stützte die Ellbogen auf und betrachtete Germaine aufmerksam. Es gab vieles an der Freundin, worüber sie sich Gedanken machte, aber sie hatte es nie ausgesprochen. Es war, als bestünde ein stillschweigendes Einverständnis zwischen ihnen, daß gewisse Dinge unbesprochen zu bleiben hatten. Aber jetzt war sie neugierig, und der Wein hatte ihre Zurückhaltung gelockert.
»Du und Rudy, ihr schlaft oft miteinander, nicht?«
»Ja.«
»Und wie schaffst du's, daß du nicht schwanger wirst?«
Germaines Augen blitzten im Widerschein des Kerzenlichts. »Ich nehme ein Diaphragma.«
»Was ist denn das?«
»Man muß schon katholisch sein, um das nicht zu wissen. Es ist eine Form der Verhütung.«
»Oh!«
»Ja, ich weiß, daß du von Verhütung nichts hältst.«
»Es ist doch auch unnatürlich, oder? Sex ist zur Fortpflanzung da.«
»Sex soll Spaß machen, Mary, und Verhütungsmittel geben der Frau Freiheit. Warum sollen wir Frauen am Sex nicht den gleichen Spaß haben wie die Männer? Welches Gesetz schreibt uns vor, daß wir es ablehnen und ständig Angst haben müssen, schwanger zu werden?«
»Macht es dir Spaß?« fragte Mary leise.
Germaine trank erst einen Schluck Wein, dann sagte sie: »Ja.«
Mary ließ sich wieder auf den Rücken fallen und beobachtete die tanzenden Schatten an der Zimmerdecke. »Ich beneide dich. Deine Eltern sind so liberal, und du hast soviel Freiheit. Ich wette, du hast nie ein schlechtes Gewissen. Das muß herrlich sein. Ich wollte, ich wüßte, wie es ist.« Sie lachte kurz auf. »Es gibt einen Haufen Sachen, von denen ich gern wüßte, wie sie sind.«
Sie schloß die Augen und dachte an die umwerfende Entdeckung, die sie allein in ihrem Bett gemacht hatte. Sie konnte das Wunder des Orgasmus ganz allein herbeiführen und praktisch so oft sie wollte. Die Tatsache, daß sie es dem alten Pater Ignatius beichten mußte, minderte den Genuß nicht im geringsten.
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