»Hallo«, sagte Ted gedämpft, als er ins Wohnzimmer trat. »Wieso bist du so spät noch auf, Kätzchen?«
»Ich hab auf dich gewartet, Daddy.« Sie hob den Blick nicht.
»Du hast auf mich gewartet?« Er kam näher und setzte sich ihr gegenüber aufs Sofa. Mary sah, wie er die Tasche, in der seine Sportsachen waren, neben sich auf den Boden stellte. »Was ist denn, Mary? Geht es dir nicht gut?«
Mary war selbst erstaunt, daß sie es fertigbrachte, ihm direkt in die Augen zu sehen. »Nein«, antwortete sie leise, »es geht mir nicht gut. Ich bin schrecklich deprimiert und wollte mit dir reden.«
»Worum geht's denn?«
»Ich bin so enttäuscht über Germaine. Sie hat die ganze Zeit geglaubt, daß ich lüge. Ich dachte, sie wäre die einzige, auf die ich mich wirklich verlassen kann, aber heute abend hab ich gemerkt, daß ich mich getäuscht habe.«
»Ach, Kätzchen, das tut mir leid.«
»Ja. Eigentlich kann man sich auf keinen Menschen mehr verlassen.«
»Ach was!« Er neigte sich zu ihr und klopfte ihr leicht aufs Knie. »Möchtest du auch noch einen Kakao?«
Sie sah ihn mit klaren Augen an. »Daddy -«
»Ja?«
»Ich wollte heute abend nach der Sache mit Germaine mit dir reden. Ich bin zum Fitneßklub gefahren.«
Er ließ die Hand einen Moment auf ihrem Knie liegen, dann zog er sie zurück.
»Der Mann dort hat gesagt, du seist schon seit Jahren nicht mehr dort gewesen.«
Ted holte einmal tief Atem. »Das stimmt.«
»Ich war so durcheinander«, fuhr sie fort, »und da bin ich einfach rumgefahren. Ich war in der Etiwanda Avenue -«
»Ach Gott«, flüsterte er.
»Es war nur Zufall. Ich hab dich nicht gesucht. Ich war so deprimiert und hatte niemanden, mit dem ich reden konnte, und da bin ich einfach rumgefahren. Daddy, wer ist Gloria Renfrow?«
Er ließ sich in die Sofapolster fallen und neigte den Kopf nach rückwärts. »Was soll ich dir sagen, Kätzchen?« fragte er, den Blick zur Decke gerichtet.
»Sag mir, daß sie eine Klientin ist, Daddy, und daß du nur heute abend ausnahmsweise dort warst. Daß du sonst jeden Mittwoch zum Sport gehst, nur eben in einen anderen Klub, und daß du vergessen hast, uns das zu sagen. Sag's mir, Daddy, dann glaube ich es.«
Er hob langsam den Kopf in die Höhe und sah Mary tieftraurig an. »Ich werde dich nicht belügen, Kätzchen. Dazu achte ich dich zu sehr.«
»Daddy, bitte!« Die Tränen schossen ihr in die Augen. »Bitte sag, daß sie nur eine Klientin ist.«
»Aber du weißt doch schon, daß das nicht stimmt«, entgeg-nete er.
»Wie konntest du, Daddy?« Die Tränen rannen ihr über das Gesicht.
»Mary, können wir ruhig miteinander sprechen?« fragte er leise.
»Was gibt's denn da noch zu sprechen?«
»Du willst nicht mit mir reden?«
»Daddy, wie konntest du Mutter das antun?«
»Was genau«, sagte er müde, »tue ich deiner Mutter denn an?« Er fühlte sich plötzlich sehr alt.
»Es ist gemein, Daddy. Und so schmutzig. Von dir hätte ich so was nie erwartet.«
»Von mir?« Er lachte kurz auf. »Wofür hältst du mich denn, Mary? Für den heiligen Franz von Assisi? Ich bin ein ganz gewöhnlicher Mensch, Mary.«
»Aber warum, Daddy? Warum tust du so was?«
»Warum?« Er breitete hilflos die Hände aus und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das kann ich dir nicht erklären. Ich glaube, ich weiß es selbst nicht.«
»Was ist das für eine Frau?«
»Eine Freundin.«
»Kennst du sie schon lange?«
»Seit fast sieben Jahren.«
Mary starrte ihren Vater mit aufgerissenen Augen an. »Du
gehst seit sieben Jahren zu ihr?«
Er nickte.
»Daddy!« Sie drückte beide Hände auf den Mund.
Er streckte die Arme nach ihr aus, aber sie war schon aufgesprungen.
»Mir ist schlecht«, keuchte sie. »Ich muß mich übergeben!«
»Mary -« Ted sprang ebenfalls auf. »Mary, bitte, verachte mich nicht.«
Aber sie war schon hinausgelaufen.
Sie behauptete, sie müsse unbedingt in die Bibliothek, darum lieh ihr Lucille ihren Wagen.
Mary wußte nicht, warum, aber es war ihr ungeheuer wichtig, gut auszusehen. Sie zog ihr hübschestes Umstandskleid an und bürstete ihr Haar, bis es glänzte. Sie hätte nicht sagen können, warum sie diese Frau aufsuchen mußte; sie wußte nur, daß sie irgend etwas unternehmen mußte. Sie und ihr Vater hatten seit zwei Tagen kein Wort mehr miteinander gewechselt. Sie konnte nichts essen, sie fühlte sich einsam und im Stich gelassen. Es war Zeit, daß sie etwas unternahm.
Eine ganze Weile blieb sie im Wagen sitzen und betrachtete das häßliche kleine Haus, während sie sich vorzustellen versuchte, wie er sieben Jahre lang jeden Mittwoch hierher gekommen war. Sie wünschte, es wäre ein Palast gewesen, damit sie ihren Vater hätte besser verstehen können.
Dann stieg sie doch aus dem Wagen, ging am Briefkasten vorbei, stieg die kurze Treppe zur Haustür hinauf und läutete.
18
Der beißende Wind riß an ihren Kleidern, als wollte er sie forttragen. Mary zog die dicke Wolljacke fester um sich und schob, nachdem sie geläutet hatte, die Hände in die Ärmel. Sie fühlte sich häßlich, dick und plump, mit angeschwollenen Füßen und zerzaustem Haar, und hoffte, entgegen ihrer Neugier, dieser Frau von Angesicht zu Augesicht gegenüberzutreten, die Tür würde sich nicht öffnen.
Aber sie öffnete sich. Warmes Licht strömte in die Dunkelheit und umriß die Gestalt der Frau an der Tür. Mary blinzelte.
»Mrs. Renfrow?« sagte sie zaghaft.
Die Frau hatte eine tiefe, rauchige Stimme. »Du bist sicher Mary. Komm herein. Mein Gott, ist das ein Sturm!«
Mary trat ein, die Tür schloß sich hinter ihr, das Heulen des Windes wurde leise und gedämpft.
»Woher wissen Sie, wer ich bin?« fragte sie.
»Ted hat mir von neulich abend erzählt. Ich dachte mir, daß du vorbeikommen würdest.«
Mary war enttäuscht von Gloria Renfrow, ja, sie fühlte sich betrogen. Ihre Phantasie hatte ihr ganz andere Bilder vorge-gaukelt. Sie war überhaupt nicht vorbereitet auf diese kleine, rundliche Frau Mitte Vierzig, deren Haarfarbe undefinierbar war und die kein Make-up trug. Die Geliebte ihres Vaters war so unscheinbar und reizlos wie das Haus, in dem sie wohnte.
»Komm mit rein, Kind. Ich mache uns Kaffee.«
Sie führte Mary aus dem kleinen Flur in ihr Wohnzimmer. Auf den ersten Blick war Mary fast entsetzt. Alte, und etwas schäbige Möbel, von denen kein Stück zum anderen paßte. Ein schwarz lackiertes Bücherregal voller Taschenbücher und alter Zeitschriften; ein moderner heller Holztisch skandinavischen Stils vor einer durchgesessenen Couch. Der Fernsehapparat war in einem Walnußschränkchen mit spindeldünnen Füßen untergebracht. Über dem Sofa hing ein Druck mit einer Waldlandschaft in einem Rahmen von Wool worth, und auf dem Tisch stand eine Obstschale mit Plastikfrüchten.
Mary fühlte sich unbehaglich. Das alles entsprach überhaupt nicht ihren Erwartungen. Das aufgedonnerte Flittchen im schwülen Liebesnest, an dem sie ihren Zorn und ihre Wut hatte auslassen wollen, gab es nicht.
»Der Kaffee wird gleich fertig sein«, sagte Gloria, aus der Küche zurückkommend. »Komm, gib mir deine Jacke.«
»Nein danke, ich behalte sie lieber an.« Mary zog die Jacke enger um sich.
»Okay. Willst du dich nicht setzen?«
Nachdem Gloria in dem Sessel neben dem Bücherregal Platz genommen hatte, setzte sich Mary in den Fernsehsessel daneben und fand ihn, beinahe zu ihrem Ärger, sehr bequem.
»Schieb die Armlehnen zurück, Kind.«
Der Sessel kippte ein wenig nach rückwärts, und die gepolsterte Fußstütze hob sich.
»Besser so? Ich weiß, als ich mit meinem ersten Kind schwanger war, waren meine Füße immer so geschwollen, daß sie mir wie Blei am Körper hingen.«
Mary blickte auf ihre Füße, die unförmig über die Ränder ihrer Ballerinas quollen.
»Weißt du, was da guttut? Ein heißes Fußbad mit >Epsomer Bittersalz <. Das weiß ich aus Erfahrung. Und viel Spargel essen, der treibt.«
Mary starrte auf ihre Füße und vermied es beharrlich, Gloria Renfrow anzusehen. Es war sehr still im Zimmer. Einmal machte Gloria eine Bemerkung über das Wetter, meinte, dieser kalte Wind sei ein sicheres Zeichen für einen harten Winter, dann schwieg sie wieder.
Ein schrilles Pfeifen ließ Mary zusammenfahren. Gloria sprang auf. »Das Wasser kocht.« Sie eilte zur Küche. An der Tür blieb sie stehen und drehte sich um. »Oder möchtest du lieber eine Tasse Tee?«
Mary nickte und starrte weiter auf ihre Füße, während sie den Geräuschen lauschte, die aus der Küche zu ihr ins Zimmer drangen.
Nach einigen Minuten kam Gloria mit einem Tablett zurück, auf dem zwei dampfende Tassen, ein Milchkännchen, eine Zuckerdose und ein Teller mit aufgeschnittenem Sandkuchen standen. Sie stellte das Tablett auf einen kleinen Klapptisch, den sie zwischen die beiden Sessel trug, dann hockte sie sich auf die Armlehne ihres Sessels und goß Milch in ihren Tee. »Nimmst du Zucker, Mary? Oder trinkst du ihn auch lieber mit Milch wie die Engländer?«
Mary wandte den Blick von ihren Füßen und richtete ihn auf die Tasse. »Zwei Stück Zucker bitte«, sagte sie, während sie Gloria Renfrows Hände betrachtete, die rot und rauh waren.
Gloria schob die Tasse zu Mary hinüber und legte ein Stück Kuchen auf eine Papierserviette daneben. Dann ließ sie sich in ihren Sessel sinken und trank von ihrem Tee.
Mary wartete einen Moment, dann nahm auch sie ihre Tasse und trank.
»Und wie weit bist du jetzt?« fragte Gloria.
Mary mußte sich räuspern. »Im sechsten Monat.«
Gloria lächelte. »Gratuliere. Da hast du ja gar nicht mehr lang.« Mary beobachtete die Frau mißtrauisch.
»Ich habe selbst vier Kinder zur Welt gebracht«, fuhr Gloria fort. »Der Älteste ist jetzt Rechtsanwalt in Seattle. Der zweite ist in Mississippi bei der Air Force. Der dritte studiert an der Universität von Kalifornien in Santa Barbara. Der vierte ist tot. Er starb mit drei Jahren an Leukämie.«
»Das tut mir leid«, sagte Mary.
»Ja. Es war schlimm damals.« Glorias Lächeln wurde wehmütig. »Hast du schon einen Namen für deine Tochter?«
Mary erstarrte. »Hat - hat mein Vater Ihnen gesagt, daß es ein Mädchen wird?«
»Er hat mir alles erzählt, Kind. Ich verfolge die Geschichte der Mary Ann McFarland seit Juni wie einen Fortsetzungsroman.«
Mary warf ihr einen empörten Blick zu, sah aber nur ein Lächeln freundlicher Erheiterung auf dem Gesicht der Frau. Sie stellte ihre Tasse nieder. »Er hat ihnen alles erzählt?«
Gloria nickte.
»Dazu hatte er kein Recht.«
»Aber natürlich hatte er das.«
Mary sah sie trotzig an. »Es geht Sie aber nichts an.«
Gloria zog die Brauen hoch, die nicht gezupft waren. »Entschuldige mal! Alles, was deinen Vater berührt, geht mich an.«
»Wieso?«
»Weil ich ihn liebe.«
»Ich will das nicht hören!« Mary versuchte, ihren Sessel wieder geradezustellen, aber es gelang ihr nicht.
»Mary«, sagte Gloria ruhig und ohne zu lächeln, »meinst du nicht, es ist Zeit, daß wir miteinander reden? Wir sind es deinem Vater schuldig.«
Mary strampelte mit den Beinen. »Ich schulde ihm nichts.«
»Du tust dir wohl sehr leid, wie?«
Immer noch kämpfte Mary mit dem Sessel. »Ich, ich habe allen Grund dazu.«
»Faß die Armlehnen fest an, und zieh. Lieber Gott, du siehst aus wie eine Schildkröte, die auf den Rücken gefallen ist.«
Mary packte die Armlehnen und riß so fest daran, daß die Fußstütze krachend auf den Boden schlug.
»Ich hoffe nur, daß du mir meinen Fernsehsessel nicht kaputtgemacht hast.«
Wütend funkelte sie Gloria an. »Wie eine Schildkröte«, keuchte sie empört, und ehe sie wußte, wie ihr geschah, stiegen ihr die Tränen in die Augen, und sie fing an zu lachen.
»Kind, wenn du dich hättest sehen können! Weißt du, was mir mal passiert ist? Ich glaube, es war beim dritten Kind. Da war ich im neunten Monat so dick, daß ich im Drehkreuz im Supermarkt steckengeblieben bin. Ich sag dir, es ging nicht vorwärts und nicht rückwärts. Sie mußten die Feuerwehr holen, um mich rauszuholen.«
Mary lachte noch heftiger und wischte sich die Augen mit dem Jackenärmel. Als sie sich wieder beruhigt hatte, sah sie Gloria Renfrow verwirrt an.
»Wenn du nicht reden willst, Mary«, fragte Gloria behutsam, »warum bist du dann hergekommen?«
Mary drückte die Hände auf ihre Augen. »Ich weiß nicht. Weil ich Sie sehen wollte. Ich wollte sehen, was mein Vater -« Sie ließ die Hände sinken. »Es ärgert mich, daß mein Vater allen Leuten von mir erzählt.«
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