»Erstens hat er nicht allen Leuten von dir erzählt, und zweitens hat dein Vater doch wohl auch gewisse Rechte, meinst du nicht? Schau mal, Mary, du bist nicht der Nabel der Welt.«

»Ach, Sie haben ja überhaupt keine Ahnung«, fuhr Mary sie zornig an. »Sie wissen überhaupt nicht, was ich aushalten muß.«

»Aber Kind.« Gloria brach sich ein Stück Kuchen ab und schob es in den Mund. »Du bist nicht die erste Frau auf der Welt, die schwanger ist, und du bist auch nicht die erste unverheiratete Frau, die ein Kind erwartet.«

»Aber bei mir ist alles ganz anders.«

»Meinst du?« Gloria brach sich noch ein Stück ab. »Nach dem, was dein Arzt gesagt hat, dieser Dr. Wade, scheint es doch so zu sein, daß es immer schon Fälle wie deinen gegeben hat. Vielleicht geschieht jetzt einem anderen Mädchen das gleiche.«

Mary starrte die Frau an, die ihren Kuchen kaute und dann mit einem Schluck Tee nachspülte.

Andere? dachte sie. Andere, denen es genauso geht wie mir? Jetzt, in diesem Moment?

»Ich finde sogar, du kannst von Glück reden, Mary. Du hast Dr. Wade, der für dich eintritt, und einen großartigen Vater, der dir glaubt. Es gibt bestimmt andere Mädchen in deiner Lage, die nicht soviel Glück haben. Ah ja, ich seh schon, der Gedanke ist dir nie gekommen, hm? Trink deinen Tee, Kind. Sonst wird er kalt.«

Mary nahm gehorsam ihre Tasse und trank. Der Tee hatte einen ganz besonderen, köstlichen Geschmack.

»Gut, nicht?«

»Solchen Tee hab ich noch nie getrunken.«

»Ich hab immer welchen da. Für besondere Gelegenheiten.«

Mary lehnte sich in ihrem Sessel zurück und stellte ihn wieder in Schräglage. Ihre Füße kamen in die Höhe.

»Also«, sagte Gloria sanfter, »hast du schon einen Namen

für sie?«

Mary starrte in ihre Teetasse. »Ich möchte sie Jacqueline nennen«, antwortete sie leise.

»Das ist ein schöner Name.«

Mary verstand selbst nicht, was sie getrieben hatte, ihr Geheimnis preiszugeben. Sie hatte es nicht einmal Amy oder Dr. Wade anvertraut, weil man ihr das Kind ja doch nehmen würde und die Adoptiveltern ihm gewiß einen anderen Namen geben würden. Aber tief im Innern wußte Mary, daß das Kind für sie immer Jacqueline sein würde.

»Was ist denn, Kind?«

Mary sah Gloria an. Sie war dem Weinen nah. »Ach, nichts. Ich habe nur ...«

Gloria stellte ihre Tasse weg und legte Mary die Hand auf die Schulter. »Du möchtest sie behalten, nicht wahr?«

Mary schluckte krampfhaft. »Ich weiß nicht. Meine Eltern sagen, wir müssen es zur Adoption freigeben. Und Pater Crispin ist auch der Meinung. Wahrscheinlich haben sie recht. Aber -«

»Aber was?«

»Aber sie ist doch ein besonderes Kind. Sie ist nicht wie andere Kinder entstanden. Und die Adoptiveltern werden sie sicher nicht als etwas Besonderes behandeln. Außerdem möchte ich sie so gern bei mir haben. Sie gehört doch zu mir.« Gedanken, die ihr bisher noch nicht in den Sinn gekommen waren, schossen ihr plötzlich durch den Kopf. »Ich möchte bei ihr sein, wenn sie langsam groß wird.«

Gloria nickte. »Das kann ich verstehen, Mary. Das solltest du auch. Sie ist ja wirklich ein besonderes Kind, und nur du kannst das verstehen.«

»Ich war mir bis jetzt gar nicht bewußt .« Mary kämpfte mit den Worten. Das Kind bin ich, sagte es in ihr. Das Kind bin ich, und ich würde mich selbst wildfremden Menschen überlassen. »Bis jetzt habe ich es nur als irgendein Kind gesehen, das zur Welt kommt und gleich wieder verschwindet. Aber jetzt sehe ich es plötzlich als kleines Mädchen, das laufen und reden lernt und zur Schule geht und - und ich möchte dabei sein, wenn das alles kommt. Ach!« Mary fing an zu weinen und schlug die Hände vor ihr Gesicht. »Entschuldigen Sie«, schluchzte sie.

»Das macht doch nichts, Mary. Laß es ruhig raus.«

»Ich weiß nicht, warum ich hergekommen bin. Ich war so wütend auf meinen Vater. Ich wollte sehen, was - was .«

»Was er hier will?« Gloria nahm ihre Tasse und trank den letzten Rest Kaffee. »Ich beneide dich, Mary«, sagte sie. »Ich habe mir immer eine Tochter gewünscht, aber ich habe nur Söhne bekommen. Nach den ersten beiden war ich richtig wütend. Ich wollte unbedingt ein kleines Mädchen. Und als ich das dritte Mal schwanger war, kaufte ich lauter Mädchensachen, als wäre das eine Garantie dafür, daß es endlich ein Mädchen werden würde. Es heißt, daß das Geschlecht des Kindes durch die Chromosomen des Mannes bestimmt wird. Also war es wohl Sams Schuld.«

Mary sah sich im Zimmer um.

»Ich war mit ihm verheiratet. Jetzt bin ich Witwe. Er starb vor sieben Jahren. Ganz plötzlich, an einem Herzinfarkt. Wir wollten in die Ferien fahren und packten die Sachen ins Auto. Er ging noch einmal ins Haus, um eine Taschenlampe zu holen. Aber er kam nicht wieder heraus. Johnny fand ihn. Sam war einundvierzig Jahre alt.« Gloria richtete die hellen Augen auf Mary. »So habe ich deinen Vater kennengelernt. Ich mußte Sams Aktien verkaufen, um die Begräbniskosten bezahlen zu können. Dein Vater war Sams Anlageberater. - Dein Tee wird ganz kalt, Kind.«

Mary sah auf die Tasse in ihrer Hand, als hätte sie sie eben erst gesehen. Hundert Fragen lagen ihr plötzlich auf der Zunge.

»Wie ist es, wenn man ein Kind bekommt?«

»Oh.« Gloria lachte leise. »Mary, das ist bei jeder Frau anders. Und bei jedem Kind. Bei meiner ersten Schwangerschaft stellte sich heraus, daß der Kopf des Kindes für mein Becken zu groß war. Die Ärzte mußten einen Kaiserschnitt machen. Sie sagten mir, wenn einmal ein Kaiserschnitt gemacht worden ist, muß er auch bei allen nachfolgenden Entbindungen gemacht werden. Aber ich wollte mein zweites Kind auf natürliche Weise zur Welt bringen. Und ich setzte mich durch. Eine ganze Nacht lang haben Johnny und ich geschuftet, wir haben gedrückt und gepreßt, und der Schweiß ist mir in Strömen runtergelaufen. Ich war so fertig, daß ich dachte, einer von uns würde auf der Strecke bleiben. Aber dann flutschte er raus wie nichts, und die nächsten beiden Entbindungen waren ein Kinderspiel.«

Gloria hielt einen Moment inne und hing Erinnerungen nach. Dann sagte sie: »Es kommt auf alles mögliche an, Mary. Auf deinen Zustand, auf den Zustand des Kindes, und auf den Arzt. In manchen Krankenhäusern geben sie einem eine Narkose, und man bekommt überhaupt nichts mit. In anderen machen sie eine Kaudalanästhesie, und man kann wenigstens zuschauen. Jetzt gibt es, soviel ich weiß, Ärzte, die für eine natürliche Geburt ganz ohne Betäubung sind.«

»Ist das denn möglich?« fragte Mary erstaunt.

Gloria lachte erheitert. »Aber natürlich. Tausende von Jahren haben Frauen ihre Kinder auf natürlichem Weg zur Welt gebracht. Oder glaubst du, die alten Griechen haben Äther verwendet?«

Mary runzelte die Stirn. »Darüber hab ich nie nachgedacht.«

»Eine Geburt ist ein wunderbares Erlebnis, Mary. Man kann es nicht beschreiben. Jede Frau muß es selbst erleben.«

Mary stellte ihre Tasse auf den Klapptisch und legte beide Hände auf ihren Bauch. »Ich werde morgen geröntgt«, sagte sie. »Dr. Wade hat gesagt, es wäre alles in Ordnung, er will nur die Entwicklung des Kindes genau überwachen.« Sie hob den Kopf und sah Gloria mit ihren kühlen blauen Augen an. »Ist das normal, daß man geröntgt wird?«

Sie sah den Schatten, der über Glorias Gesicht flog, ehe diese sich abwandte. »Mary, meine letzte Schwangerschaft ist so lange her, daß ich gar nicht weiß, was heutzutage zum normalen Behandlungsablauf gehört.«

»Aber Dr. Wade hat Angst, daß etwas nicht in Ordnung ist, stimmt's?«

Gloria wandte sich ihr wieder zu. »Du hast es doch eben selbst gesagt, Mary. Du bist ein besonderer Fall. Ich denke, dein Arzt möchte lediglich alles Menschenmögliche tun, um sicherzustellen, daß es dir und deinem Kind gutgeht. Ganz gewiß hast du keinen Anlaß, dir Sorgen zu machen.«

Die angenehm rauhe Stimme, die so bestimmt und sicher klang, und das klare Lächeln auf dem unscheinbaren, aber sympathischen Gesicht beruhigte Mary. Sie nahm ihre Tasse und trank den letzten Schluck Tee, und dabei fiel ihr plötzlich auf, daß sie über diesem offenen, warmen Gespräch mit Gloria Renfrow den ursprünglichen Grund ihres Kommens völlig vergessen hatte.

Sie sah die Frau neben sich beinahe herausfordernd an und sagte: »Sind Sie katholisch?«

Die Frage schien sie nicht zu überraschen. »Warum? Würde das für dich etwas ändern? Würde das -« Gloria senkte die Stimme ein wenig - »die Sünde deines Vaters mildern?«

Mary antwortete nicht.

»Ich kann und will nicht für deinen Vater sprechen«, fuhr Gloria ruhig fort. »Was er zu sagen hat, muß er dir selbst sagen. Aber was mich angeht ... Ich war plötzlich allein mit drei halbwüchsigen Jungen und fühlte mich sehr allein gelassen. Und gerade in dieser Zeit, wo mir so sehr jemand fehlte, an den ich mich einmal anlehnen konnte, trat dein Vater in mein Leben. Aber bitte glaub jetzt ja nicht, ich hätte ihn mit List und Tücke zum Ehebruch verführt. Dein Vater war damals auch in einer Situation, wo er dringend jemanden brauchte. So etwas geht immer nur, wenn beide wollen.«

Sie schwieg einen Moment. »Glaub mir«, sagte sie dann, »es ist nicht leicht, die Freundin oder Geliebte eines verheirateten Mannes zu sein.« Ihre Stimme wurde ein wenig brüchig. »Obwohl ich ihn von ganzem Herzen liebe und alles für ihn tun möchte, muß ich immer im Hintergrund bleiben und mich mit einem zweiten Platz in seinem Leben begnügen. Es ist, als lebte man immer im Schatten. Ich kann ihn niemals anrufen, wenn ich traurig bin. Ich kann niemals an den Wochenenden oder im Urlaub mit ihm Zusammensein; ich kann nicht mit ihm ausgehen oder verreisen. Wenn ich ihm ein Geschenk mache, kann er es nicht mit nach Hause nehmen. Ich muß mich damit zufriedengeben, jede Woche ein paar Stunden mit ihm zu verbringen, und mehr nicht. Und wenn du glauben solltest, daß ich mich von ihm aushalten lasse, dann schlag dir das mal ganz schnell aus dem Kopf. Ich bin berufstätig und verdiene mir allein meinen Lebensunterhalt. Dein Vater gibt mir kein Geld. Und ich will auch keines. Ich will nur ihn

selbst.«

Marys Augen brannten. »Aber wenn er meine Mutter so unerträglich findet, warum verläßt er sie dann nicht?«

»Er findet sie nicht unerträglich, Mary. Vielleicht kannst du das jetzt noch nicht verstehen, aber dein Vater liebt sie und er liebt mich. Nur auf unterschiedliche Weise. Du weißt nicht viel von Männern, Kind, und auch wenn du mal so alt bist wie ich, wirst du vieles nicht verstehen.« Sie lachte kurz und bitter. »Und da heißt es immer, die Frauen seien geheimnisvoll!«

»Und - und Sie lieben ihn wirklich?«

»Ja, ich liebe deinen Vater, Mary.«

Mary kämpfte mit den Tränen.

»Sei ihm nicht böse, Mary«, sagte Gloria. »Ich hoffe, wenn du älter bist, wirst du ihn verstehen.«

»Aber wie kann er nur!« stieß sie weinend hervor. »Er ist streng katholisch -«

»Mary, was glaubst du denn, warum dein Vater hierher kommt? Ich weiß, was du denkst, und du täuschst dich, Kind. Natürlich war das Sexuelle am Anfang wichtig, das will ich gar nicht bestreiten. Es hat eine große Rolle gespielt. Ich denke, daß es für viele einsame Menschen der einfachste Weg ist, sich gegenseitig zu trösten. Aber das ist sieben Jahre her. Soll ich dir sagen, was wir hier jeden Mittwochabend tun, Mary? Dein Vater kommt herein, zieht seine Schuhe aus und setzt sich mit mir zusammen vor den Fernseher. Manchmal spielen wir Karten. Oder er richtet mir den Wasserhahn in der Küche. Oder wir setzen uns in den Garten und schauen zu, wie die Sonne untergeht. Und hin und wieder schlafen wir auch zusammen.

Mary, ich weiß, warum du hergekommen bist. Seit dein Vater mir neulich von eurem Gespräch erzählt hat, habe ich dich erwartet. Du hast deinen Vater als Heiligen gesehen. Und jetzt stellst du fest, daß er auch nur ein Mensch ist. Du bist wütend auf ihn - und vermutlich auch auf mich -, daß er dir das antut. Du bist hergekommen, weil du hofftest, du würdest den Heiligen zurückbekommen; du hofftest, ich würde alles bestreiten, und du könntest deinen Vater dann wieder aufs Podest heben. Ich kann es verstehen, ich hatte auch einen Vater ... Aber ich kann dir diesen Gefallen nicht tun, Mary.

Du solltest mich nicht verachten. Das Recht dazu hast du dir noch nicht verdient. Um über mich urteilen zu können, brauchst du selbst erst eine gewisse Lebenserfahrung und Reife. Mein Leben ist einsam, weil ich einen Mann liebe, den ich niemals haben kann. Ich habe mich mit der Zukunft ausgesöhnt. Vielleicht solltest du das auch tun.«

Mary wischte sich die Tränen aus den Augen und sah Gloria an.

»Ich werde deinem Vater nicht sagen, daß du hier warst«, fuhr Gloria fort. »Wenn du es ihm sagen möchtest, gut, das ist deine Entscheidung. Es gibt Dinge im Leben deines Vaters, die er nur mir erzählt hat, Mary. Nicht einmal deine Mutter weiß davon. Und sie alle haben damit zu tun, daß er hierherkommt. Aber es ist seine Sache, dir davon zu erzählen .«