Ted räusperte sich. »Dann ist also alles in Ordnung, Doktor?«

Was für ein Gesicht wird es haben? dachte Jonas Wade. Wird es Hände und Füße haben? Wird es ein gesundes Gehirn haben ...

»Es scheint alles in Ordnung zu sein, ja«, sagte er. Er schaltete das Gerät aus und kehrte an seinen Schreibtisch zurück. »Und?« fragte er. »Haben Sie sich noch einmal überlegt, ob Sie das Kind nicht doch behalten wollen?«

Mary und ihr Vater öffneten gleichzeitig den Mund, aber Lucille kam ihnen zuvor. »Diese Frage haben wir schon lange entschieden, Dr. Wade. Wir haben unsere Meinung nicht geändert.«

Er sah Mary an. Sie machte ein Gesicht, als wolle sie zu weinen anfangen.

»Aber Sie müssen doch zugeben, Mrs. McFarland, daß gewisse Faktoren sich geändert haben. Es gibt jetzt nicht mehr so viele Unbekannte. Ich dachte, Sie würden es sich vielleicht doch noch einmal überlegen.«

»Es hat sich nichts geändert, Dr. Wade. Wir wollen das Kind nicht behalten.«

Wieder sah er das Mädchen an. »Mary? Was meinst du dazu?«

Aber sie schwieg beharrlich. Nun komm schon, dachte er. Komm schon, Mary, sag was. Kämpfe um das, was du möchtest, was wir beide möchten.

»Im übrigen«, sagte Lucille kühl, »verstehe ich nicht ganz, warum Sie sich darüber Gedanken machen, Dr. Wade. Wir haben Sie schließlich nicht um Ihren Rat gefragt.«

Jonas mußte umdenken. Er hatte vorgehabt, heute die Frage der Veröffentlichung seines Berichts anzusprechen; sich vorsichtig vorzu tasten, um schließlich ihre Erlaubnis zur Veröffentlichung zu erhalten. Jetzt sah er, daß er dieses Vorhaben verschieben mußte. Keiner dieser drei würde heute ansprechbar sein.

Joan Crawford hob den Deckel von der Speiseplatte, die vor ihr stand, und kreischte laut, als sie die tote Ratte darunter sah.

Da die Scheiben des Autos genau wie die der anderen Wagen, die im Autokino in der letzten Reihe standen, völlig beschlagen waren, bekamen weder Mike noch die dicke Sherry die Horrorszene mit. Aber der Schrei gellte schrill durch den Lautsprecher in die Stille. Brummend langte Mike hinüber und stellte den Ton leiser.

Er und Sherry hatten sich in eine Wolldecke eingewickelt, um es warm und gemütlich zu haben, aber obwohl sie seit mehr als einer Stunde heftigst schmusten, hatten beide wenig Spaß.

»Ich hab Hunger«, nörgelte Sherry, als Mike seine Hand wieder unter ihren Pullover schob.

»Herrgott noch mal«, sagte er gereizt, das Gesicht an ihrem Hals. »Du hast zwei Tamales gegessen und eine Riesentüte Popcorn.«

»Ich kann doch nichts dafür. Im Kino krieg ich immer Hunger.« Sie beugte sich vor und wischte die beschlagene Windschutzscheibe.

»Mensch, laß doch, Sherry. Den Film kannst du vergessen.«

»Aber ich muß was tun. Ich langweile mich zu Tode.«

»Ach verdammt!« Er richtete sich auf und schlug mit der Faust aufs Steuerrad. »Es war doch ganz gut, warum hast du auf einmal aufgehört?«

»Weil du nicht mal einen Ständer kriegst«, sagte sie kühl.

»Ich versuch's ja, Sherry. Aber du mußt auch was dazu tun.«

»Ich tu seit einer Stunde was dazu, Mike. Mann, bei dir kann man wirklich sagen, der Schein trügt.«

Mike schleuderte die Decke von sich und rückte von ihr ab.

Die dicke Sherry war in diesem Monat sein dritter Versuch. Erst hatte er es mit Sheila Brabent probiert. Die war auch ganz schön heiß gewesen, aber in letzter Minute hatte sie gesagt, sie würde es nur tun, wenn er ihr dafür neue Ski kaufte. Dann hatte er sich Charlotte Adams geschnappt, die ihm immer schon nachgelaufen war, aber als sie am Mulholland Drive geparkt hatten, hatte sie gesagt, er dürfe sie nur am Busen streicheln und sonst nichts. In seiner Verzweiflung hatte er sich an die dicke Sherry gewandt, die im Sommer mit Rick Schluß gemacht hatte und jetzt mit allen herumflirtete.

»So doll ist das mit dem Sex sowieso nicht«, sagte sie, während sie den Blick auf die große Leinwand draußen gerichtet hielt. »Nick war auch nicht gerade eine Kanone.«

»Das interessiert mich nicht. Hör auf.«

»Na ja.« Sie zog die dicken Schultern hoch. »Sei nicht zu enttäuscht. Wir können's ja ein andermal versuchen.«

Er verschränkte die Arme und starrte wütend auf die beschlagene Windschutzscheibe. Bette Davis sang >Baby Jane<.

»Ich kann dir sagen, warum's nicht klappt«, bemerkte Sherry, die dabei war, sich einen Pickel am Kinn auszudrücken.

»Warum?«

»Weil dir an mir in Wirklichkeit gar nichts liegt, Mike. Dich interessiert doch nur Mary.« Sie drehte den Kopf und sah ihn an. »Mir brauchst du nichts vorzumachen, Mike. Ich weiß genau, daß du nicht mit mir hierher gefahren bist, weil du scharf auf mich bist. Du kommst nur nicht mehr an Mary ran, drum -«

»Halt die Klappe.«

»Klar, klar, du hast ja nie was mit ihr gehabt. Ich weiß schon. Okay, ich glaub's dir. Außerdem wissen sowieso alle, daß Charlie Thatcher ihr das Kind gemacht hat.«

Mike fuhr herum. »Was? Wer hat das gesagt?«

»Charlie Thatcher.«

»Mann -«

»Geschieht ihr recht. Warum war sie immer so eingebildet. Ich wollte sie letzten Monat auf meine Party einladen, aber meine Mutter hat es nicht erlaubt, weil - hey! Was machst du denn da?«

Er kurbelte das Fenster herunter, warf den Lautsprecher hinaus und ließ den Motor an.

»Aber der Film läuft doch noch!«

Mary war in ihrem Zimmer, als sie ein Auto vor dem Haus halten hörte. Als es läutete, machte sie die Musik leiser und öffnete ihre Tür einen Spalt. Sie hörte Mikes gedämpfte Stimme, sie machte ihre Tür ganz auf und trat in den Flur. Da sah sie ihn stehen, zaghaft und unsicher.

»Mike«, rief sie und lief ihm entgegen.

20


Der Dezember war ungewöhnlich kalt. Beißende Winde fegten durch das Tal, und über den Santa-Monica-Bergen standen drohende schwarze Wolken. Ein schweres Winter ge witter schien sich zusammenzubrauen.

Es war Mittwoch abend, und bis Weihnachten nur noch eine Woche hin. Das Haus der McFarlands war schon geschmückt und bunt erleuchtet. Ted war außer Haus. Amy war beim Pfadfindertreffen, Lucille machte sich für die Weihnachtsfeier ihres Frauenvereins fertig, und Mary saß in ihrem Zimmer und packte Weihnachtspäckchen. Sie spürte eine

Bewegung in ihrem Bauch - ein Wirbeln, als drehe sich etwas in ihr und fiele abwärts -, und als sie mit den Händen nachfühlte, merkte sie, daß das Kind sich nach unten verlagert hatte. Mary legte das Band aus der Hand und spürte im selben Moment, wie ein Schwall warmer Flüssigkeit sich aus ihr ergoß.

Langsam und schwerfällig stand sie von ihrem Stuhl auf und blieb einen Moment stehen, als ein Krampf ihren Bauch durchzuckte und dann verging. Ganz ruhig ging sie zum Schlafzimmer ihrer Eltern und öffnete die Tür. Lucille zog gerade den Reißverschluß ihres Kleides zu.

»Mutter«, sagte Mary. »Ich glaube, es ist soweit.«

Lucille fragte, ohne aufzublicken: »Was meinst du?«

»Das Baby kommt.«

Lucille erstarrte mit nach rückwärts verrenkten Armen. Dann ließ sie den Reißverschluß los und drehte sich um. »Woher weißt du das?«

»Die Fruchtblase ist geplatzt, und ich hatte eben eine Wehe.«

»Aber es ist doch viel zu früh.«

»Ich weiß, aber ich kann's nicht ändern.« Sie schlang plötzlich die Arme um ihre Mitte und sagte: »Jetzt kommt wieder eine.«

»Bist du sicher? Vielleicht sind es falsche Wehen.«

Mary schüttelte den Kopf. »Dr. Wade hat mir erklärt, wie es sein würde. Und meine Hose ist ganz naß.«

»Wie hat sich die erste Wehe angefühlt?«

»Wie ein Krampf.«

»Setz dich, Mary Ann«, sagte Lucille. »Ich rufe Dr. Wade an.«

Mary ließ sich auf den Hocker vor dem Toilettentisch fallen, während ihre Mutter zum Telefon ging, das auf dem Nachttisch stand. Mary starrte ihr Bild im Toilettenspiegel an, während ihre Mutter aus ihrem kleinen Buch die Nummer heraussuchte und wählte.

Es ist zu früh, dachte Mary. Irgend etwas ist nicht in Ordnung ...

»Mary Ann?«

Sie drehte sich um. Lucille saß mit nackten Füßen und dem halb geschlossenen Kleid auf dem breiten Bett.

»Alles in Ordnung?«

»Ja, Mutter.«

»Sein Auftragsdienst sagte, er wäre im Moment nicht zu erreichen. Aber da es sich um einen Notfall handelt, werden sie sehen, ob sie ihn finden können. Wir fahren jetzt am besten gleich ins Krankenhaus, Mary Ann.«

Mary schloß die Augen und dachte, jetzt ist der Moment da, auf den wir gewartet haben. Der Grund für alles ...

»Mary Ann?« Ihre Mutter stand plötzlich neben ihr und sah sie besorgt an. »Wie fühlst du dich? Hattest du wieder eine Wehe?«

»Nein.«

»Also gut. Erst müssen wir dir einen kleinen Koffer packen und dich ins Krankenhaus bringen. Ich rufe an, damit sie wissen, daß wir kommen.« Sie ging wieder zum Telefon, während sie sprach. »Die Wehen kommen anfangs im allgemeinen in einem Abstand von zehn bis fünfzehn Minuten, und beim ersten Kind dauert es meistens eine ganze Weile, ehe es richtig losgeht. Wir haben also Zeit.«

Mary starrte immer noch das Mädchen im Spiegel an, als wäre sie eine Fremde. »Ich habe gespürt, wie sie sich umgedreht hat, Mutter. Ihr Kopf ist nicht mehr hier oben, er ist jetzt

da unten. Dr. Wade hat mir gesagt, daß das passieren würde.«

Lucille rief die Auskunft an. »Ich hätte gern die Nummer des Encino Krankenhauses.« Sie notierte sie auf einen kleinen Block. Dann wählte sie von neuem.

»Ruf nicht an, Mutter«, sagte Mary plötzlich. »Ich geh nicht ins Krankenhaus.«

Lucille wählte ruhig weiter. »Was redest du da?«

»Ich geh nicht ins Krankenhaus, Mutter. Bitte ruf nicht an.«

Lucille sah ihre Tochter einen Moment verblüfft an, dann legte sie auf.

»Ich will das Kind nicht im Krankenhaus auf die Welt bringen. Ich will nicht narkotisiert werden, während fremde Leute meine Arbeit machen. Ich will es selber tun. Ich hab's angefangen, ich will es auch zu Ende bringen.«

»Aber Mary, was soll das?«

»Ich will mein Kind hier zur Welt bringen.«

Lucille sprang auf. »Das kann nicht dein Ernst sein.«

Auch Mary stand auf. »Ich geh nicht ins Krankenhaus, und du kannst mich nicht zwingen. Jetzt kommt wieder eine -Wehe. Ist das richtig, daß sie so schnell hintereinander kommen?«

»Aber Kind, verstehst du denn nicht? Das Kind kommt zu früh! Du mußt ins Krankenhaus. Es kann alles mögliche schiefgehen. Ich ruf einen Krankenwagen -«

»Nein!«

Lucille begann zu wählen. Die Hände fest auf ihren Bauch gedrückt, ging Mary zu ihr, so schnell sie konnte, und riß ihr den Hörer aus der Hand.

»Das ist doch unmöglich!« rief Lucille entsetzt.

»Sie muß hier auf die Welt kommen. Begreifst du denn nicht, Mutter -«

»Mary Ann, hör mir zu.« Lucille nahm ihre Tochter bei den Schultern. »Du kannst das Kind nicht hier gebären. Das wäre gefährlich. Für dich und das Kind. Du brauchst einen richtigen Kreißsaal. Du brauchst einen Arzt und Narkose und die Sterilität des Krankenhauses.«

»Wieso? Jahrhunderte haben Frauen ihre Kinder ohne das alles geboren.«

»Ja, und weißt du, wie viele von den Frauen und den Kindern gestorben sind? Hör mir endlich zu, Mary Ann. Eine Geburt ist nicht so einfach. Es kann immer Komplikationen geben. Und du bist zu früh dran.« Sie schüttelte Mary. »Das heißt, daß etwas nicht in Ordnung ist.«

»Nein. Es ist einfach Zeit für sie, geboren zu werden. Mein Rücken tut mir weh. Da sitzt der ganze Schmerz. Ich möchte mich hinlegen.«

»Ich rufe einen Krankenwagen -«

»Nein.« Mary sank auf die Bettkante. »Zwischen den Wehen geht's mir ganz gut. Mutter, du kannst mich nicht zwingen, ins Krankenhaus zu gehen. Und wenn du es versuchen solltest, brülle und tobe ich die ganze Fahrt.«

»Ach, Mary Ann ...« Lucille setzte sich neben sie. »Warum denn nur? Es ist so gefährlich, Kind.«

»Weil ich es erleben möchte. Ich möchte es ganz bewußt erleben.«

Lucille strich Mary über das Haar und legte ihr dann den Arm um die Schultern. Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander. Mary fühlte sich geborgen und getröstet im Arm ihrer Mutter und genoß es. Sie lehnte den Kopf an Lucilles Schulter und sagte: »Ich möchte das Kind behalten.«

»Ich weiß.« Lucille beugte sich ein wenig vor und drehte den Kopf, um Mary auf die Stirn zu küssen. »Komm jetzt,

Schatz, ich bring dich ins Bett.«

Sogar mit Lucilles Hilfe fiel Mary das Gehen schwer. An der Tür mußten sie Rast machen.

»Wie weit auseinander sind sie jetzt?« fragte Lucille.