»Ich weiß nicht«, antwortete Mary keuchend. »Ungefähr fünf Minuten, denk ich.«
»Kommen sie regelmäßig?«
»Ja.«
»Und werden sie stärker?«
»Ja ...«
Sie wankten durch den Flur, Mary schwer auf ihre Mutter gestützt, und erreichten endlich Marys Zimmer. Mary ließ sich aufs Bett fallen, während ihre Mutter in der Kommode nach einem Nachthemd suchte.
»Wenn doch Dr. Wade endlich käme«, sagte Mary, als sie unter der Decke lag.
Lucille tätschelte ihr die Hand. »Mary Ann, bitte laß mich den Krankenwagen rufen.«
Mary lächelte. »Müßtest du jetzt nicht was tun, Mutter? Wasser heiß machen, Laken in Fetzen reißen oder so was?«
Lucille drängte die Tränen zurück und zwang sich zu einem Lachen. »Ich habe keine Ahnung, was ich tun müßte.«
»Ruf noch mal bei Dr. Wade an.«
»Gut.«
Aber als sie aufstehen wollte, hielt Mary ihre Hand fest. »Mutter -«
Lucille wandte sich ab. Sie konnte nicht zusehen, wie das Gesicht ihrer Tochter sich bei den Wehen verzerrte. Als die Schmerzen nachließen, sah Lucille auf ihre Uhr und sagte: »Alle vier Minuten.«
»Es geht zu schnell, nicht wahr, Mutter?« Mary war außer
Atem. »Ich - ich möchte Daddy hier haben. Er soll dabeisein.«
»Schön.« Lucille entzog Mary ihre Hand. »Ich rufe ihn an.«
Als ihre Mutter aufstand, fiel es Mary plötzlich ein, und sie sagte hastig: »Nein, warte, laß nur. Es hat ja Zeit. Er wird schon noch rechtzeitig kommen. Vielleicht ist er heute abend gar nicht im Klub -«
»Schon gut, Schatz, reg dich nicht auf. Ich mach das schon alles.«
Mary richtete sich im Bett auf und hielt den Atem an, um besser hören zu können. Aus dem Elternschlafzimmer kam das schwache Geräusch der sich drehenden Wählscheibe des Telefons. Dann konnte sie Lucilles gedämpfte Stimme hören. Sie fragte nach Ted, sprach einen Moment, legte dann auf.
Als sie wieder in Marys Zimmer trat, war ihr Gesicht grau. »Er kommt.«
Mary fiel in ihr Kissen zurück. »Ach, Mutter .«
»Ich hätte nie geglaubt, daß ich das einmal tun würde.« Als Lucille sich wieder aufs Bett setzte, sah Mary die Tränen in ihren Augen.
»Du weißt von Gloria«, flüsterte sie.
»Ich weiß es schon seit fünf Jahren.«
Mary fing an zu weinen.
»Nicht weinen, Schatz.«
»Wie konntest du das aushalten?« rief Mary schluchzend. »Warum hast du nichts dagegen getan?«
Ohne sich die Tränen vom Gesicht zu wischen, nahm Lucille Mary bei den Unterarmen und zog ihre Hände in ihren Schoß. Mit einem mühsamen Lächeln antwortete sie: »Weil ich ihn liebe und mit ihm zusammenbleiben möchte, und wenn das die einzige Möglichkeit ist, dann akzeptiere ich sie.«
Mary warf den Kopf hin und her. »Ich hasse ihn -«
»Nein, das tust du nicht. Es ist nicht allein seine Schuld. Und bitte, Mary Ann, wir sagen ihm nicht, daß ich es weiß, okay?«
»Wie willst du das denn machen?« fragte Mary. »Du hast ihn doch eben angerufen.«
»Wir sagen, du hättest gewußt, daß er heute abend nicht im Sportklub ist, sondern bei einem Klienten, du hättest zufällig den Namen gehört, und ich hätte dann im Telefonbuch nachgeschlagen. Schaffst du das, Mary Ann?«
»Er verdient es nicht.«
»Es ist nicht für ihn, Kind, es ist für mich. Versprich mir, daß du mir hilfst.«
Mary hob wieder den Kopf und sah ihre Mutter mit großen Augen an. »Es tut mir so leid«, sagte sie leise.
»Es ist schon gut. Es ist unser Geheimnis. Wir -«
»Oh!« Mary zog ihre Hände weg und drückte sie auf ihren Bauch. »Sie sind jetzt stärker«, flüsterte sie. »Wie lange noch, Mutter?«
»Ein paar Stunden, glaube ich.«
»Mutter -«
»Ja.«
»Wäre es dir lieber gewesen, ich hätte abgetrieben?«
Lucille hob mit einem Ruck den Kopf. »Mary Ann! Wie kommst du denn auf den Gedanken?«
»Ich hab dich und Dad damals im Juni miteinander streiten hören. Ich hab gehört, wie du zu Daddy gesagt hast, er soll jemanden suchen, der eine Abtreibung machen -«
»Ach Gott, Mary Ann! Das war doch nicht mein Ernst. Das mußt du doch wissen.«
»Aber darum hab ich mir die Pulsadern aufgeschnitten. Weil ich Angst hatte, du und Daddy, ihr würdet mich dazu zwingen, und dann -«
»Ach Kind! Du Armes!« Lucille streichelte Mary über die Stirn. »Ich war betrunken, als ich das sagte. Was Betrunkene reden, darf man nicht ernst nehmen.«
»Mutter, ich hab solche Angst, daß dem Kind was fehlt, daß irgend was nicht normal ist. Glaubst du, daß das sein kann?«
Lucille schüttelte hastig den Kopf. »Aber nein, ganz bestimmt nicht. Paß mal auf, sie wird sicher ein niedliches kleines Mädchen.«
»Obwohl sie zu früh kommt?«
»Aber ja. Mach dir jetzt keine Sorgen, Schatz. Hör zu, ich geh jetzt mal in die Küche und setze Wasser auf. Ich weiß nicht, wozu, aber das tun sie in Büchern und in Filmen immer.«
Als Lucille aufstand, schloß Mary die Augen. Sie fühlte sich sehr leicht, fast wie berauscht, und ließ sich in diese euphorische Welt hineinsinken.
Als einige Minuten später ihre Mutter zurückkam und sich wieder zu ihr aufs Bett setzte, sagte sie mit träger Stimme: »Mutter, ich hatte eben eine Erinnerung - oder war es ein Traum? Ich weiß nicht.« Sie hielt die Augen geschlossen. »Ich bin in einem Kinderbett, und es ist dunkel im Zimmer. Von nebenan höre ich Stimmen. Ich höre eine Frau weinen. Sie schreit: >Ich will nicht sterben.< Und dann spricht ein Mann, aber ich kann nicht verstehen, was er sagt. Mutter - warst du das?«
»Du warst damals vier«, sagte Lucille leise. »Und wir wohnten noch im anderen Haus.«
»Was war denn da los?«
Lucille sah ihre Tochter an, während sie sprach. »Ich hätte nie Kinder bekommen sollen, Mary Ann. Das sagten mir die Ärzte schon, als ich dich erwartete. Du warst eine sehr schwere Geburt. Ich lag achtundvierzig Stunden lang in den Wehen, und dann mußten sie doch einen Kaiserschnitt machen. Danach hatte ich Angst. Dein Vater und ich hielten nichts von Verhütung. Wir waren dagegen. Als ich dann wieder schwanger wurde, hatte ich schreckliche Angst.«
»Und was passierte?«
»Gott hat meine Gebete erhört. Nach Amys Geburt wurde meine Gebärmutter entfernt. Das war meine Rettung.« Lucille sah ihrer Tochter in die klaren blauen Augen und wurde innerlich ruhig, während sie sprach. »Weißt du, Mary Ann, ich konnte den Geschlechtsakt nie genießen. Ich nehme an, es lag an meiner strengen Erziehung. Die Kirche hat mich gelehrt, daß es sündig ist, im Zusammensein mit einem Mann Lust zu empfinden, auch wenn man verheiratet ist, und meine Mutter sagte immer, die Schwangerschaft sei Gottes Strafe für die Lust. Für mich bedeutete Enthaltsamkeit Freiheit von Leiden. Ach, ich weiß selbst nicht recht. Ich hatte Angst vor der Sexualität. Ich liebte deinen Vater, Mary Ann, und ich glaube, ich begehrte ihn auch, aber .«
Lucille senkte den Kopf. »Als ich die Totaloperation hatte, war ich froh. Ich war unglaublich erleichtert. Nicht nur daß ich nun keine Kinder mehr bekommen konnte, sondern ich fühlte mich auch von der Pflicht des Geschlechtsverkehrs befreit. Pater Crispin erklärte uns nach meiner Operation, daß wir, dein Vater und ich, von nun an wie Bruder und Schwester zusammenleben müßten, und ich war froh darüber. Ich brauchte keine richtige Ehefrau mehr zu sein. Aber ich hatte auch Schuldgefühle, Mary Ann. Ich liebte ja deinen Vater. Ich liebte ihn sehr. Aber ich wollte nicht mit ihm schlafen. Ich denke, das ist der Grund, weshalb er sich von mir abgewandt hat. Männer haben nun einmal diese Bedürfnisse .«
Sie schnüffelte und wischte sich mit der Hand die Augen. »Ich glaube, ich sehe jetzt lieber mal nach, ob das Wasser schon kocht.«
Das Haus strahlte im warmen Glanz der Weihnachtskerzen, und der würzige Duft von Lebkuchen zog durch die Räume. Den Erker schmückte ein hoher, wunderschöner bunt behängter Christbaum, aber auf dem Kaminsims stand auch eine alte Messingmenora zur Feier des Chanukka-Festes im Haus der Familie Schwartz bereit.
Die beiden Männer saßen im Wohnzimmer und tranken Punsch, während Esther Schwartz in der Küche ein Blech mit Plätzchen nach dem anderen in den Herd schob.
»Nun mach doch nicht so ein Gesicht«, sagte Bernie aufmunternd. »Seid fröhlich, und freuet euch .«
»Tut mir leid, Bernie. Mich bedrückt das.«
»Natürlich, das verstehe ich. Aber es wird schon wieder werden. Sie macht bestimmt nur eine Phase durch.«
Jason starrte auf den Watteschnee rund um den Christbaumständer. Gestern abend hatte Cortney angerufen und ihnen mitgeteilt, daß sie Weihnachten nicht nach Hause kommen würde. Sie wollte nach San Francisco ziehen, zu Freunden, die in Haight-Ashbury lebten. Sie wolle endlich das Leben kennenlernen, hatte sie erklärt. Penny hatte gewütet und getobt. Jonas war erst wie betäubt gewesen, dann hatte ihn eine tiefe Niedergeschlagenheit erfaßt. Er wußte, daß es ihm nicht gelingen würde, Cortney zu überreden, daß sie ihre Pläne noch einmal überdenkt. Ach, wenn er nur vor zwei Jahren eingegriffen hätte! Aber nun war es zu spät; er hatte die
Anzeichen nicht erkannt.
»Du bist zu hart gegen dich selbst«, sagte Bernie. »Teenager sind unberechenbare Wesen. Da weiß man vorher nie, was ihnen plötzlich einfällt.«
»Ich habe mich ja nur für meinen Bericht interessiert.« Jonas trank einen Schluck von seinem Punsch. »Wahrscheinlich hat Penny recht. Ich hätte es ihr einfach verbieten sollen, als sie ausziehen wollte.«
»Ach, weißt du, Jonas«, begann Bernie, und da kam Esther ins Zimmer.
»Jonas«, rief sie, sich die Hände an der Schürze abwischend, »Penny ist am Telefon. Sie sagt, du hast einen Notfall.«
Er stellte sein Glas nieder und folgte ihr hinaus. Eine Minute später kam er, seinen Regenmantel schon in der Hand, wieder ins Wohnzimmer. »Es ist soweit, Bernie. Mary Ann McFarland bekommt ihr Kind.«
In der Auffahrt hielt ein Auto. Die Haustür wurde geöffnet und wieder zugeschlagen. Schwere Schritte näherten sich durch den Flur. Dann stand Ted an der Tür zu Marys Zimmer, den feuchten Regenmantel noch halb über einer Schulter.
»Daddy!«
»Hallo, Kätzchen.« Er lief zur ihr ans Bett und nahm ihre Hände. »Ist es wirklich schon soweit?«
»Ja. Ich weiß es.«
»Warum willst du nicht ins Krankenhaus? Wo ist Dr. Wade? Wo ist deine Mutter?«
»Ich bin hier, Ted.«
Er fuhr herum. Lucille stand mit einer Ladung Laken und Handtüchern im Arm an der Tür. Statt des eleganten Kleides, das sie für die Weihnachtsfeier hatte anziehen wollen, trug sie jetzt Rock und Pullover. Sie trat ins Zimmer und legte den Packen Tücher auf die Kommode.
»Wie wär's, wenn du erst mal deinen Mantel ausziehst«, sagte sie zu ihrem Mann.
»Lucille -«
Sie sah ihn nicht an. »Dr. Wade ist schon unterwegs. Er hat gerade angerufen. Er fährt noch im Krankenhaus vorbei, um seine Instrumente zu holen, dann kommt er sofort her.« Sie drängte sich an ihm vorbei ans Bett. »Würdest du mal ein bißchen zur Seite gehen, damit ich Mary Ann helfen kann?«
Er stand auf. Sein Gesicht war grau, und er wirkte unsicher. »Als du angerufen hast -«
»Ja«, sagte sie, während sie ein Handtuch ausbreitete und ihm dabei den Rücken zuwandte, »es war ein Glück, daß Mary wußte, daß du bei diesem Klienten warst. Komm, gehe mal einen Moment, damit ich Mary Ann das Handtuch unterlegen kann. - Kannst du mal kurz deinen Po heben, Schatz, damit ich das Tuch unterschieben kann?«
Mary verzog schmerzhaft das Gesicht, als erneut eine Wehe einsetzte. Sie holte tief Atem und ließ mit geschlossenen Augen die Luft langsam wieder heraus. Als sie die Augen öffnete, sagte sie leise: »Ich glaub, jetzt kommt ein Auto .«
Ted war schon auf dem Weg zur Tür, als es läutete. Er ließ Jonas Wade ein, nahm ihm den nassen Regenmantel ab und führte ihn in Marys Zimmer, wo Lucille ruhig in einem Sessel saß und ihrer Tochter die Hand hielt.
Mary strahlte. »Ich wußte, daß Sie rechtzeitig kommen würden.«
Lucille stand auf, um Jonas Wade Platz zu machen. »Es fing gegen sechs Uhr an, Doktor«, sagte sie. »Die Wehen kommen regelmäßig in einem Abstand von ungefähr vier Minuten.«
Jonas stellte seinen schwarzen Koffer auf den Sessel und legte ein grün eingepacktes Bündel daneben. Dann trat er zu Mary ans Bett. »Ich höre, du willst nicht ins Krankenhaus.«
»Auf keinen Fall.«
Er zwang sich zu einem Lächeln, aber sein Ton war ernst. »Es wäre aber besser, Mary. Auch für das Kind -«
»Nein, Dr. Wade.«
Einen Moment lang sah er sie schweigend an und spürte, wie ein Klumpen der Angst sich in seinem Magen zusammenballte. Dann sagte er: »Na schön. Dann wollen wir mal sehen.«
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