»Ich weiß ja, daß sie Untersuchungen gemacht haben, Daddy, und ich weiß auch, daß sie beide erfahrene Ärzte sind, aber es ist einfach nicht möglich.«

Ted brachte endlich wenigstens einen tiefen Seufzer zustande. Und dann kamen auch Worte. »Mary«, sagte er leise. »Ich mache mir Vorwürfe. Ich habe das Gefühl, das ist alles meine Schuld.«

»Aber wieso denn?«

»Ich habe als Vater versagt. Ich habe dir nicht beigebracht -

«

»Aber Daddy! Es hat nichts mit dir zu tun. Ich habe irgendeine Krankheit oder was, das die Ärzte nicht erkennen können. Was hat das damit zu tun, ob du ein guter Vater bist oder nicht?«

»Kätzchen.« Ted streichelte Marys Wange. »Vielleicht hatte deine Mutter recht. Vielleicht hätte ich dich und Amy auf der katholischen Schule lassen sollen. Vielleicht wäre das dann nicht -«

»Aber Daddy -«

»Hör mir zu, Kätzchen. Ich glaube nicht, daß du etwas Schlimmes getan hast, okay? Glaubst du mir das?«

Sie nickte unsicher.

»Du hast wahrscheinlich nicht gewußt, was du tust. Selbst jetzt ist dir wahrscheinlich nicht klar, was du getan hast. Ich dachte immer, deine Mutter hätte dich aufgeklärt -«

»Daddy«, sagte sie flehentlich. »Ich weiß genau, wie es geht, und ich hab nie so was getan. Das hab ich den Ärzten auch gesagt. Ich hab so was nie getan.«

Ted sah seiner Tochter stirnrunzelnd ins Gesicht. »Mary, ich glaube nicht, daß zwei Ärzte eine Schwangerschaft bei dir feststellen könnten, wenn es nicht so wäre.«

»Aber ich bin nicht schwanger!« rief sie. »Daddy!« Die Tränen schossen ihr in die Augen. »Du mußt mir glauben. Ich hab nichts getan.«

»Komm, komm«, flüsterte er, legte den Arm um sie und zog sie an sich. Sie legte den Kopf an seine Brust. Ein Weilchen weinte sie noch, dann wurde sie still. Ted hielt sie fest an sich gedrückt.

»Mary«, sagte er leise. »Du mußt mir vertrauen, ja?« Sie nickte stumm.

»Ich verurteile dich nicht. Ich bin auch nicht böse oder sonst etwas in der Richtung. Ich stehe auf deiner Seite, Mary, denn du bist meine Tochter. Ich möchte dir helfen. Glaubst du mir das?«

Sie nickte wieder.

»Kätzchen - sag mir nur eines.«

»Ja, Daddy?«

Er holte Atem. »Wer war es?«

Mit einem Ruck hob Mary den Kopf und wich vor ihrem Vater zurück. »Du glaubst ihnen«, flüsterte sie ungläubig.

»Das muß ich doch, Kätzchen.«

»Wieso? Wieso mußt du ihnen glauben und nicht mir?«

»Sag mir nur, wer es war, Mary? War es Mike?«

Sie fuhr zurück, als hätte er sie geschlagen. »Daddy!« schrie sie mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Ach, Daddy! Oh, lieber Gott!«

Als sie aufsprang, fuhr Ted hoch und packte sie beim Arm.

»Lauf jetzt nicht vor mir weg, Mary.«

»Du bist genau wie Mutter. Du glaubst, daß ich es getan habe.«

»Mary -«

»Nein! Nein!« Mit einer abrupten Bewegung riß Mary sich los und rannte zur Tür.

»Mary! Warte!« rief Ted ihr nach, aber er war so blind von seinen eigenen Tränen, daß er nicht sehen konnte, wohin sie lief.

Im sanften Licht der Spätnachmittagssonne, das durch die großen Fenster seiner Praxis strömte, saß Jonas Wade über lästiger Büroarbeit. Nachdem er die Sprechstundenhilfe nach Hause geschickt hatte, war er mit grimmiger Entschlossenheit daran gegangen, Krankenblätter zu vervollständigen und Korrespondenz zu diktieren, die bisher unerledigt liegengeblieben war.

Am Nachmittag war nicht viel los gewesen. Mehrere Patienten hatten ihre Termine abgesagt. Wer konnte es ihnen verübeln, daß sie bei dieser Hitze lieber in ihrem Garten geblieben oder zum Schwimmen gegangen waren? Selbst Gel-sons Supermarkt, den er von seinem Platz aus sehen konnte, war wie ausgestorben. Die Sonne würde erst in zwei Stunden untergehen; dies war die heißeste Zeit des Tages. Er hob den Kopf, als er von draußen Geräusche hörte. Ja, jemand rüttelte am Türknauf. Als es danach klopfte, ging er ins Wartezimmer hinaus. Er konnte hören, wie im Hausflur jemand davonging.

Er öffnete die Tür und schaute hinaus. Überrascht sah er Mary Ann McFarland bei den Aufzügen stehen.

»Mary?« rief er.

Sie drehte sich um. Als sie ihn sah, lächelte sie entschuldigend und kam auf ihn zu.

»Hallo, Dr. Wade. Ich dachte, Sie wären schon gegangen. Die Tür zur Praxis war abgeschlossen.«

»Ja, die Praxis ist auch schon geschlossen. Wolltest du zu mir?«

Sie blieb unschlüssig stehen.

»Komm doch herein, wenn du möchtest.« Er trat zurück und hielt ihr die Tür auf.

Als sie, immer noch zögernd, an ihm vorüberging, sah er, daß ihre Augen rot und verschwollen waren. Sie sah auch nicht so gepflegt und adrett aus wie die vergangenen Male, als sie bei ihm gewesen war. Ihr Haar war so zerzaust, als sei sie gerade aus dem Bett gekommen, die Bluse hing ihr hinten aus dem Rock.

Er ging ihr voraus in sein Sprechzimmer und setzte sich. Mary blieb stehen, ohne ein Wort zu sagen.

»Wie bist du denn hergekommen, Mary?« fragte Jonas Wade, um dem Mädchen seine Befangenheit zu nehmen.

»Mit dem Rad.«

»Bei dieser Hitze?«

Sie hob den Kopf zu den großen Fenstern und sah blinzelnd in die dunstige gelbe Sonne. »Ja, es ist wirklich ziemlich heiß

»Setz dich doch, Mary.«

Sie kauerte sich auf die Sesselkante, als wolle sie jeden Moment wieder aufspringen und davonlaufen.

»Möchtest du etwas Kaltes trinken?« fragte er, während er das unruhige Spiel ihrer Hände beobachtete. »Ich glaube, wir haben eine Cola draußen im Kühlschrank.«

»Nein, danke.« Sie hielt den Kopf gesenkt.

»Was kann ich für dich tun, Mary?«

Sie zupfte an ihrem Rock. »Ich wollte mit jemandem reden.«

»Okay.«

Langsam hob sie den Kopf und sah ihn an. Sein Gesicht war

ernst, aber sein Blick machte ihr Mut.

»Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich hergekommen bin. Ich wollte nur weg.«

»Weg von wo?«

»Von zu Hause.«

»Warum?«

Sie senkte wieder den Kopf. »Ich hätte wahrscheinlich lieber zu Pater Crispin gehen sollen, aber manchmal ist er nicht in der Kirche. Er ist ziemlich viel unterwegs, wissen Sie, in Krankenhäusern und so. Aber ich wußte, daß Sie da sein würden, Dr. Wade, weil ja Mittwoch ist, und - na ja, letzten Mittwoch . . .«

»Ja, ich weiß.«

Mary sah ihn an. »Dr. Wade, bitte sagen Sie mir, daß es nicht wahr ist. Sagen Sie mir, daß es nicht stimmt, was sie sagen.«

»Wen meinst du mit >sie<, Mary?«

»Dr. Evans und meine Eltern. Meine Mutter ist mit mir zu ihm gegangen, er ist Gynäkologe, und er sagte, daß ich ein Kind bekomme.«

»Ach, so.«

»Und meine Mutter war ganz außer sich.« Die Worte kamen jetzt in einem Schwall. Mary strömten die Tränen über das Gesicht. »Ich hab sie noch nie so gesehen. Und mein Vater ist genauso. Er glaubt, ich hätte es mit Mike getan. Aber ich hab es überhaupt noch nie getan, Dr. Wade. Ich weiß, daß es unrecht ist und daß man es erst tun soll, wenn man verheiratet ist, weil es sonst eine Sünde ist. Aber ich weiß nicht, warum sie mir nicht glauben. Ich sage doch die Wahrheit!«

Jonas Wade lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Ich kenne Dr. Evans, Mary. Er ist ein ausgezeichneter Arzt.«

»Aber er täuscht sich.«

»Mary.« Jonas Wade stand auf und kam um seinen Schreibtisch herum. Er setzte sich in den Sessel neben Mary und beugte sich zu ihr. »Mary, du bist ein intelligentes Mädchen. Du bist in der Schule bestimmt sehr gut.«

»Ja. Ich bin in der Begabtenklasse.«

»Na bitte! Du hast Biologieunterricht. Du mußt doch wissen, daß das, was du behauptest, unmöglich ist.«

Sie schüttelte den Kopf. »Gerade weil ich Biologie habe, weiß ich ja, daß das, was Sie und Dr. Evans sagen, unmöglich ist.«

Jonas Wade ließ sich das einen Moment durch den Kopf gehen. »Mary, was weißt du über Verhütung?«

»Ich weiß, daß es unrecht ist zu verhüten.«

»Ich verstehe.« Er lehnte sich zurück und bedachte seine nächsten Worte. »Du gehst regelmäßig zur Kirche?«

»Ja.«

»Das dachte ich mir. Und du gehörst zur Katholischen Jugend?«

»Ja.«

Jonas Wade nickte langsam und nachdenklich. Den Blick auf Marys Gesicht gerichtet, versuchte er zu erkennen, was hinter den beinahe noch kindlichen Zügen vorging, die jetzt Verwirrung und Schmerz ausdrückten, versuchte, in den Tiefen der blauen Augen den Schatten eines Gedankens zu erhaschen. Aber alles, was er entdeckte, war die arglose Ehrlichkeit der Unschuldigen, die ungeheuchelte Verwirrung der fälschlich Beschuldigten. Und plötzlich kam ihm ein Gedanke, der ihn innehalten ließ. Es kam ihm der Gedanke, daß dieses Mädchen vielleicht die Wahrheit sagte.

Eine Erinnerung wurde wach. Er blickte in das unschuldige junge Gesicht des Mädchens und entsann sich eines Berichts, den er vor noch nicht langer Zeit gelesen hatte - von einer ledigen Mutter in England, die mit ihrer Behauptung, unberührt gewesen zu sein, großes Aufsehen erregt hatte ...

»Mary«, sagte er schließlich, »wissen deine Eltern, daß du hier bist?«

»Nein. Ich wußte ja selbst nicht, daß ich hierher kommen würde. Ich bin einfach aus dem Haus gerannt, hab mein Fahrrad gepackt und bin so weit geradelt, wie ich konnte. Ich weiß nicht, warum ich zu Ihnen gekommen bin. Wahrscheinlich muß ich einfach mit jemandem reden, und ich wußte sonst niemanden .«

»Ich muß deine Eltern anrufen, Mary.«

Sie seufzte. »Ich weiß.« Sie drehte den Kopf und sah durch das Fenster wieder zum dunstigen gelben Himmel hinaus, während Jonas Wade die Telefonnummer ihrer Eltern wählte.

Er lebte in einem großen Bungalow im besseren Teil von Woodland Hills in einer von Eukalyptusbäumen beschatteten Straße, wo stattliche Villen weit zurückgesetzt in großen Gärten standen. Das Haus war ein weiträumiger Bau im typischen kalifornischen Ranch-Stil mit großen Panoramafenstern, die vorn auf einen gepflegten Vorgarten hinausblickten und hinten auf Rasenflächen unter Avocado- und Orangenbäumen und ein großes Schwimmbecken.

Einen Tequila-Sunrise in der Hand, von dem er hin und wieder trank, stand Jonas Wade am Fenster des Wohnzimmers und beobachtete eine Gruppe junger Leute, die sich draußen am Schwimmbecken tummelte. Aus der Küche zogen die Düfte des Abendessens herein, und ab und zu konnte er durch das Glas das Kreischen der jungen Leute hören, die sich gegenseitig ins Wasser stießen.

Aber das alles nahm er nur am Rande wahr. Seit er Mary Ann McFarland ihren erregten Eltern übergeben hatte, wollte ihm das Mädchen nicht mehr aus dem Sinn. Er hatte ähnliche Szenen schon mehrmals im Lauf seiner ärztlichen Praxis erlebt: verzweifelte junge Dinger und aufgeregte Eltern. Doch diesmal war es ein wenig anders gewesen - zwar war Mary Ann verzweifelt gewesen, doch sie hatte nicht aufgehört, ihre Unschuld zu beteuern.

Während Jonas Wade geistesabwesend dem ausgelassenen Treiben seiner beiden Kinder mit ihren Freunden zusah, meldete sich wieder die Erinnerung an den Bericht, der ihm am Ende seines Gesprächs mit der kleinen McFarland plötzlich eingefallen war. Wo hatte er ihn nur gelesen? Und wann? Er hatte ihn damals nur flüchtig überflogen und sogleich wieder vergessen. Nur die Ähnlichkeit der jetzigen Situation mit der geschilderten hatte die Erinnerung wachgerufen. In England. Eine Ärztin, die den Beteuerungen der Frau geglaubt hatte, hatte sich mit dem Fall befaßt. Hatte Untersuchungen angestellt, die interessante Daten zutage gefördert hatten. Aber wie hatte der Befund schließlich ausgesehen?

Penny eilte ins Wohnzimmer. Er hörte das Klappern ihrer Absätze auf dem Parkettboden und sah sie, als sie an ihm vorbeilief - klein, zierlich und beweglich, in Shorts und einem trägerlosen Oberteil, das schwarze Haar noch in dicken Wicklern.

»Das Essen ist in zehn Minuten fertig«, rief sie ihm zu. »Ruf die Kinder rein, ja?«

Jonas trank den letzten Schluck seines Cocktails und ging zur Terrassentür. Die drückende Hitze schlug ihm ins Gesicht, als er sie aufzog, und die Gerüche von jungen Eukalyptusblät-tern, faulenden Früchten, welkem Gras und Staub stieg ihm in die Nase. Einen Moment tat es ihm leid, die jungen Leute vom heiteren Spiel in Sonne und Wasser wegholen und in das von der Klimaanlage kalte Haus rufen zu müssen. Er betrachtete die schlanken, braungebrannten Körper, die in der Sonne glänzten; zwei Mädchen und zwei junge Männer, sprühend vor Lebenslust.

»Hallo, Kinder!« rief er laut.

Sie verstummten und drehten sich nach ihm um; die achtzehnjährige Cortney, zum Sprung bereit auf dem Drei-MeterBrett; ihre Freundin Sarah Long, die am Beckenrand saß; der neunzehnjährige Brad und sein Freund Tom im Wasser.