»Das Essen ist gleich fertig. Zieht euch was an!«

Er kehrte ins Haus zurück, hörte das Klatschen des Wassers, als Cortney hineinsprang, dann lautes Gelächter. Er zog die Tür hinter sich zu und ging zur Bar, um sich noch einen Drink zu machen. Lächelnd nickte er der geschäftig vorbeieilenden Carmelita zu; sie war eine gute Haushälterin, auch wenn sie kaum ein Wort englisch sprach. Sie war fleißig und immer freundlich. Und einmal in der Woche servierte sie den Wades enchiladas und tostadas, wie sie nur südlich der Grenze zu bekommen waren.

Mit dem Glas in der Hand ging er zu seinem Arbeitszimmer. Drinnen blieb er unschlüssig stehen. Er wußte gar nicht, was er hier wollte. Sein Blick fiel auf die nagelneue Urkunde, die auf seinem Schreibtisch lag; eine große Ehre, auf ein weiteres Jahr zum Präsidenten der Galen-Gesellschaft gewählt worden zu sein. Als er die Urkunde am vergangenen Samstag erhalten hatte, auf der Junisitzung der elitären Vereinigung, die insgesamt nur zwanzig Mitglieder hatte, war er sehr stolz gewesen und im ersten Moment sprachlos vor Freude. Aber schon einen Tag später war das Hochgefühl stark abgeflaut. Schließlich war er eines der Gründungsmitglieder der GalenGesellschaft, er hatte angeregt, die Mitgliederzahl auf zwanzig zu beschränken und nur die angesehensten Ärzte aufzunehmen. Na schön, dann hatten sie ihn eben wieder zum Präsidenten gewählt - aber war das so umwerfend?

Jonas hörte nur mit halbem Ohr das Geschrei der jungen Leute, die jetzt vom Garten ins Haus stürmten. Er versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, in welcher Zeitschrift er über diesen Fall in England gelesen hatte. Er trat zu dem breiten Wandregal und musterte erst die Bücher, dann die Stapel von Fachzeitschriften, und während er jeden einzelnen Titel las, öffnete sich eine Tür in seinem Gedächtnis, und ein paar zusätzliche Details aus dem Artikel, von dem er nicht mehr wußte, wo und wann er erschienen war, drängten hervor.

In London. Eine unverheiratete Frau brachte eine Tochter zur Welt. Sie schwor Stein und Bein, niemals mit einem Mann zusammengewesen zu sein. Ihre Ärzte lachten sie aus. Aber eine Genetikerin - wie hieß sie nur? - hatte den Fall aufgegriffen. Hatte an dem Kind verschiedene Untersuchungen vorgenommen. Hautverpflanzungen. Einige primitive und zuverlässige Chromosomentests. Und der Befund -

Jonas schloß die Augen. Wie hatte der Befund ausgesehen?

»Jonas?«

Er fuhr herum.

Penny stand lächelnd an der Tür, das Haar jetzt ausgekämmt und perfekt toupiert. »Das Essen steht auf dem Tisch.« Und schon war sie wieder verschwunden.

Jonas blieb noch einen Moment vor dem Bücherregal stehen, dann griff er zum Telefon auf seinem Schreibtisch. Es war die Frage, ob Bernie überhaupt zu Hause war.

Bernie war zu Hause gewesen und hatte versprochen, nach dem Essen vorbeizukommen. Auch bei Steak und Avocadosalat ging Jonas die kleine McFarland nicht aus dem Kopf. Nachdem er seinen Freund angerufen hatte, einen Genetiker an der Universität von Kalifornien in Los Angeles, hatte er noch einmal versucht, sich zu erinnern, wo er den Artikel über den Fall in England gelesen hatte und war dann sehr zerstreut zu Tisch gegangen.

Um das Tischgespräch brauchte er sich nicht zu kümmern. Seine Kinder und ihre beiden Freunde sorgten mit einer Diskussion darüber, welchen Film man sich am Abend ansehen sollte, für Unterhaltung und Lebhaftigkeit.

Als Carmelita die gezuckerten Erdbeeren auftrug, riß Jonas sich aus seinen Gedanken und bemühte sich bewußt, seiner Umgebung etwas mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Liebevoll betrachtete er Cortney, jugendliches Abbild ihrer Mutter. Er verglich sich mit Ted McFarland, der vor wenigen Stunden aschgrau und niedergeschlagen in seiner Praxis gesessen hatte, und dankte seinem Schöpfer, daß sie mit Cortney niemals ernste Schwierigkeiten gehabt hatten. Vor drei Jahren, als sie fünfzehn gewesen war, hatte sie eine kurze Phase der Rebellion durchgemacht und war mit einer Clique ziemlich übler Altersgenossen herumgezogen. Lederjacken, aufgemotzte alte Autos, dröhnende Musik und freche Widerreden. Aber Jonas hatte sie kurzerhand die Schule wechseln lassen, und das hatte gewirkt. Jetzt studierte sie Theaterwissenschaften und brachte die besten Noten nach Hause. Nicht mehr lange, dann würde sie heiraten - einen netten jungen Mann wie Brads Freund Tom, der Betriebswirtschaft studierte und ganz sicher seinen Weg machen würde und der unverkennbar in Cortney verliebt war. Und Brad würde zielstrebig sein Jurastudium beenden, eine Anwaltskanzlei aufmachen, eine Frau wie Cortney heiraten und sich hier im San Fernando Tal niederlassen. Jonas und Penny würden endlich das Haus für sich haben, und das Leben würde in Ruhe und Behaglichkeit seinen Lauf nehmen.

Jonas starrte auf seine Erdbeeren hinunter. Seinen langweiligen Lauf, flüsterte eine Stimme in seinem Inneren.

Bernie kam, als Carmelita das Geschirr spülte und Penny sich zurückgezogen hatte. Die jungen Leute waren schon abgefahren. Jonas und sein Freund konnten ungestört und in Ruhe reden.

Nachdem Jonas zwei Drinks gemacht hatte, setzten sich die beiden Männer in sein Arbeitszimmer mit den bequemen Ledersesseln, und Jonas kam ohne Umschweife zur Sache.

Bernie Schwartz, Genetiker an der Universität von Kalifornien in Los Angeles, ein untersetzter Mann von scharfer Intelligenz, hörte sich den Bericht seines Freundes mit wachem Interesse an. Jonas und Bernie verband nicht nur die alte Freundschaft aus der Studienzeit; sie fühlten sich vor allem durch ihr Interesse an der Wissenschaft und dem Vergnügen an einer guten Debatte miteinander verbunden. Vor einigen Jahren hatte Jonas sich nach Kräften bemüht, den Freund in die Galen-Gesellschaft hineinzubringen, doch das Gründungsgesetz, an dem er selbst mitgewirkt hatte und das bestimmte, daß nur praktizierende Ärzte in die Vereinigung aufgenommen werden sollten, hatte das verhindert. Aus diesem Grund hielten sie wöchentlich bei ein paar Drinks ihre privaten kleinen Diskussionen über wissenschaftliche Themen, die ihnen am Herzen lagen.

Als Jonas nun seinen kurzen Bericht über Mary McFarland mit der Frage abschloß, was Bernie von der Sache halte, erwiderte dieser: »Ich? Meine Meinung willst du wissen? Du bist doch der Arzt, Jonas. Ich bin nur ein kleiner Feld-Wald-und-Wiesen-Genetiker.«

»Sag mir trotzdem deine Meinung.«

»Okay, entweder sie lügt, um den Knaben zu schützen, oder sie hat die Geschichte wirklich vergessen. Ich würde sagen, schick sie zum Psychiater.«

Jonas schwieg einen Moment, dann sagte er unvermittelt: »Bernie, was kannst du mir über Parthenogenese sagen?«

»Parthenogenese? Jungfernzeugung? Fortpflanzung durch eine Eizelle, die nicht durch einen männlichen Samen befruchtet worden ist. Warum fragst du?«

»Ich weiß, was das Wort bedeutet, Bernie. Ich wollte von dir wissen, wo und wie dieses Phänomen in der Natur vorkommt.«

»Du meinst wohl bei Tieren im Gegensatz zu Pflanzen. Hm .« Er zog die fleischigen, breiten Schultern hoch. »Soweit ich mich erinnere, kommt es bei manchen niederen Tieren vor, bei Guppies zum Beispiel, und dann gibt's noch eine Eidechsenart, die rein weiblich ist und sich auf dem Weg der Parthenogenese fortpflanzt. Möglicherweise gibt's auch bestimmte Frösche .«

»Wie sieht's bei höheren Tieren aus?«

»Laß mich überlegen. Soviel ich weiß, gibt's eine bestimmte Art Truthühner, wo Parthenogenese künstlich herbeigeführt wird. Zu Zuchtzwecken, glaube ich -«

»Künstliche Parthenogenese interessiert mich nicht, Bernie, ich rede von spontaner Parthenogenese.«

»Die gibt's nur bei den niederen Tieren, Jonas.«

»Nicht bei Säugetieren?«

»Nein, ich hab jedenfalls nie davon gehört, daß sie da spontan auftritt.« Er riß plötzlich die kleinen dunklen Augen auf.

»Moment mal, du glaubst doch nicht etwa, daß dieses Mädchen -«

»Ich habe irgendwo mal was von Experimenten mit vaterlosen Mäusen gehört oder gelesen. Weißt du darüber was?«

»Vaterlose Mäuse ...« Bernie krauste die Stirn. »Das liegt einige Zeit zurück, Jonas. Außerdem war's da nicht spontan, sondern künstlich, im Labor erzeugt.« Er kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Die Parthenogenese bei Säugetieren ist ein Thema, das hin und wieder mal angerührt wird, ohne daß man ihm ernste Beachtung schenkt. Herrgott, wo hab ich da nur neulich was gelesen? In einer meiner Zeitschriften - es ging da um eine bestimmte Art von Truthühnern .«

»Dann erzähl mir von den Truthühnern.«

»Warte, da muß ich erst mal überlegen. Es war in Maryland, in einem Ort namens Beltville. Ein Truthahnzüchter bemerkte, daß in einer großen Zahl unbefruchteter Eier ganz von selbst embryonisches Wachstum begann. Bei vielen hörte die Entwicklung allerdings auf, ehe das Embryo voll ausgebildet war, aber ich glaube, bei jedem sechsten Ei kam es zur völligen Reifung, und es schlüpfte eine Truthenne aus. Danach experimentierte man herum, indem man die parthenogenetischen Truthennen - also die, die aus unbefruchteten Eiern entstanden waren - mit Hähnen paarte, deren weibliche Sprößlinge parthenogenetische Eier hervorgebracht hatten. Und bald hatten die Züchter Tiere, die Eier legten, die nicht mehr befruchtet werden mußten.«

»Mir ist schleierhaft, wie das möglich sein soll.«

Bernie zuckte die Achseln. »Soviel ich weiß, hatten sämtliche parthenogenetische Tiere in ihren Körperzellen den doppelten Chromosomensatz.«

»Wie kann das sein?«

»Offenbar haben sich die Chromosomen des unbefruchteten Eis einfach verdoppelt.«

Jonas schüttelte den Kopf. »Weiß man, wodurch die Entwicklung eines Embryos ohne Befruchtung hervorgerufen wurde?«

Bernie überlegte einen Moment. »Ich kann mich nicht genau erinnern. Aber ich glaube, sie sind nicht dahintergekommen, wie das geschah.« Er trank den Rest seines Whiskys aus. »Es gibt auf diesem Gebiet kaum Daten, Jonas. Frag den Mann auf der Straße, und er wird dir nicht mal sagen können, was man unter Parthenogenese versteht. Vor ein paar Jahren gab es ziemlich Wirbel durch diese Spurway-Geschichte, und ein paar Monate lang schauten sämtliche Genetiker der Welt gespannt nach London, aber inzwischen hat sich das alles wieder gelegt.«

Jonas schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Genau! Das ist es! Spurway! Dr. Helen Spurway.« Er sprang auf und ging zum Bücherregal. »Über die Frau hab ich doch was gelesen . . .«

»Das ist acht Jahre her, Jonas. Das war neunzehnhundertfünfundfünfzig.«

»Verdammt.« Jonas trommelte mit den Fingern auf einen Stapel medizinischer Fachzeitschriften, während er im Geist die Termine für den nächsten Tag durchging. Sprechstunde von 10 bis 12, nachmittags keine Patienten. Da konnte er sich in die Bibliothek der medizinischen Fakultät an der Uni setzen.

»Jonas«, sagte Bernie ruhig. »Möchtest du immer noch meine Meinung hören?«

»Natürlich.«

»Schick sie zum Psychiater.«

»Ja, wahrscheinlich hast du recht«, sagte Jonas seufzend.

»Ich habe das heute nachmittag schon ihren Eltern empfohlen, die allerdings nicht gerade begeistert waren. Die Mutter ist der Überzeugung, daß sie bei ihrem Priester am besten aufgehoben sind.«

»O wei!«

»Ich weiß gar nicht, ob sie da so unrecht hat, Bernie. Wie dem auch sei, wenn sie mich noch einmal um meine Meinung fragen, werde ich auf psychiatrische Behandlung dringen. Und inzwischen werd ich mal festzustellen versuchen, was es mit diesen Truthühnern auf sich hat.«

5


Jetzt hätte er eigentlich schon dort sein müssen. Er wünschte, er wäre es.

Ted McFarland, der mit einem doppelten Scotch im Wohnzimmer saß und auf den toten Bildschirm des Fernsehapparats starrte, wünschte aus tiefstem Herzen, dies könnte ein normaler Mittwoch sein. Sein Trainingsabend. Gerade jetzt hätte er die Entspannung dringend gebraucht.

Aber er konnte natürlich nicht weggehen. Nicht unter diesen Umständen. Jemand mußte gewissermaßen die Festung halten; jemand mußte stark sein, sich wenigstens stark zeigen.

Aber wer brauchte ihn denn überhaupt?

Amy war im Firmunterricht, Mary hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und sprach mit niemandem, und Lucille ...

Aus dem Nebenzimmer hörte Ted ab und zu das Klirren der Whiskyflasche, wenn sie ihr Glas neu füllte.

Lucilles anfänglicher Zorn auf Mary war zu Bekümmerung und dann zu Enttäuschung dahingeschmolzen; jetzt suchte sie verzweifelt einen Weg, um wieder Zugang zu ihrer Tochter zu finden, um von ihr zu erfahren, was sie tun wollte, um zu fragen, warum sie das getan hatte, die ganze Familie enttäuscht und blamiert hatte. Aber Ted wußte, womit Lucille sich in Wirklichkeit herumschlug: mit plötzlichen schmerzlichen Erinnerungen an die Vergangenheit.