Sie war zweifellos die prächtigste Frau, derer ich je ansichtig wurde. Goldblondes Haar krönte ihr Haupt und wurde mit winzigen Bändern und juwelenbesetzten Nadeln festgehalten. Ihr schönes Antlitz wies sehr viel Ähnlichkeit mit den Gesichtern auf, die ich in Statuen gesehen hatte. Es war schneeweiß, blaß und fein wie aus Porzellan mit himmelblauen Augen und zartrosa Lippen. Sie wirkte anstößig mit ihrem bloßen Hals und einem unbedeckten Arm. Und doch war sie wunderschön, wie sie so ruhig in ihrem Wagen stand, daß man sie tatsächlich für eine Statue halten konnte. Ihre Kleider waren aus reiner Seide und von einer so lebhaften Lavendelfarbe, daß ich glaubte, den Duft riechen zu können.

Schweigen legte sich über die Menge, als die Kaiserin vorbeifuhr, und als sie in einem ganz kleinen Abstand an mir vorüberkam, fühlte ich, wie mir der Atem stockte. Im ganzen

Römischen Reich konnte es keine Frau geben, die schöner war als sie. Nahe an meinem Ohr hörte ich eine Stimme murmeln:»Sie ist so eitel und nutzlos wie die Göttinnen und hat Zähne wie eine Viper.«

Es war Salmonides, der den bewundernden Blick auf meinem Gesicht bemerkt hatte.

Mit leiser Stimme, so daß niemand anders es hören konnte, fuhr er fort:»Sie badet sich jeden Tag in Milch und reibt sich die Hände mit Krokodilschleim ein. Sie gibt sich aristokratisch, aber im Herzen ist sie eine Hure. Ihretwegen teilte Nero das Schicksal von Orestes und Ödipus.«

Ich wußte, was Salmonides meinte, und verbannte den bezaubernden Anblick aus meinem Gedächtnis. Er hatte recht. So schön und verlockend Poppäa auch sein mochte, so war sie nicht minder ein verführerisches Teufelswerk, dazu bestimmt, Männer ins Verderben zu führen.

Ich erzähle dir all dies, mein Sohn, damit du weißt, daß von Rom nichts Gutes kommt. Während diese Stadt vordergründig reizvoll und verlockend erscheint, ist sie darunter böse und gottlos. Und ich erzähle dir auch deswegen all dies, mein Sohn, auf daß du den rechten Weg wählen mögest.

Während ich diese Zeilen schreibe, sind jene in Jerusalem tot und dahingegangen, und alle, die den Meister zu seinen Lebzeiten kannten, sind umgekommen. Doch jene in Rom leben noch fort, wenngleich sie ihn nie kannten. Der Mann, den sie Messias nennen und auf dessen Rückkehr sie warten, ist ein Mythos. Er hat nie gelebt, und sie werden ewig ausharren müssen. Aber du, mein Sohn, bist ein Jude und mußt auf den Mann warten, der zurückkommen wird, um das Königreich Gottes auf Erden zu verkünden. Er wird nur zu Juden kommen, denn er ist der Messias der Juden. Richte deinen Blick deshalb nicht auf Rom, denn die Menschen dort wandeln auf dem Pfad der Unwahrheit und des Vergessens.

Es war Mitternacht, und das einzige Licht in der Wohnung brannte auf Bens Schreibtisch. Er und Judy saßen dicht beieinander, und während Ben seine Übersetzung niederschrieb, las Judy gleich mit, so daß sie die Ereignisse in Davids Leben zusammen und zur gleichen Zeit erlebten.

Eine ganze Weile sprach keiner von beiden ein Wort, sondern starrten noch immer auf die letzte Zeile, die Ben geschrieben hatte. Sie schwebten zwischen den Zeiten, gefangen in einer Welt zwischen Traum und Wirklichkeit, und schienen sich beinahe davor zu fürchten, die Stimmung zu vertreiben.

Schließlich, nach einem schier endlosen Stillschweigen, sagte Ben mit ausdrucksloser Stimme:»Das ist phantastisch. «Er sprach monoton und ohne Gefühl.»Diese Rolle hat die Sprengkraft einer Bombe, und wenn sie freigesetzt wird. «Er starrte weiter vor sich hin. In seinem glasigen Blick lag eine eigentümliche Ferne, die Judy in Erstaunen versetzte.»Wo bist du jetzt, Ben?«Ganz allmählich, wie ein Schläfer, der aus einem tiefen Schlummer gerissen wird, begann Ben, sich zu rühren und Lebenszeichen von sich zu geben. Er richtete sich auf und reckte sich stöhnend. Dann sah er Judy an und lächelte schwach.»Es gibt eine Menge Leute, denen diese Rolle überhaupt nicht gefallen wird. Sie enthält mit Sicherheit nichts, was der Vatikan begrüßen wird. Ein Urchrist, einer der früheren Anhänger Jesu, der die römische Kirche verdammt. «Dann gab er ein kurzes, trockenes Lachen von sich, und seine Gesichtszüge verhärteten sich.»Sie werden diese Rolle vernichten wollen, wenn nicht gar alle. David vernichten. «Judy zwang sich schließlich dazu, aufzustehen, und stellte fest, daß ihre Beine zitterten.»Los, Ben, laß uns hinüber ins Wohnzimmer gehen. Ich brauche einen Kaffee. «Er zeigte keine Reaktion.»Ben?«

Er saß dicht über eines der Fotos gebeugt und blickte argwöhnisch auf ein verwischtes Wort. Judy bemerkte, daß er seine Brille nicht trug, daß er sie schon den ganzen Abend nicht aufgehabt hatte, und so nahm sie sie und hielt sie ihm hin.

Doch er schob ihre Hand weg und meinte:»Ich brauche sie nicht.«

«Ich verstehe. «Sie drehte und wendete die schwere Brille in ihren Händen.

«Wer bist du jetzt?«Ben schaute auf.»Was?«

«Wer bist du? Mit wem spreche ich, mit Ben oder mit David?«Seine Gesichtszüge waren für einen Moment ausdruckslos und verzogen sich dann zu einem Stirnrunzeln.»Ich. ich weiß nicht. «Er raufte sich die Haare.»Ich weiß nicht. Ich kann es nicht sagen.«

«Komm mit, ich mache dir einen Kaffee. «Judy streckte ihre Hand aus, und zu ihrer Überraschung ergriff er sie ruhig. Er folgte ihr ins Wohnzimmer und sank mit noch immer verstörtem Gesicht auf die Couch. Judy schaltete ein paar Lichter an und ging in die Küche. Während er aus der Küche das Rauschen von laufendem Wasser und das Klappen von Schranktüren hörte, schaute Ben noch immer verwirrt umher. Er fühlte sich ganz merkwürdig — so eigenartig, wie nie zuvor in seinem Leben.

Als Judy mit dem Kaffee und einigen Krapfen zurückkam, fand sie Ben auf der Couch, sein Gesicht in den Händen vergraben. Sie setzte sich neben ihn, legte ihm sacht eine Hand auf den Rücken und flüsterte:»Was ist los mit dir, Ben?«

Er blickte zu ihr auf, und sie war entsetzt, die Angst und Verwirrung in seinen Augen zu sehen.»Ich fühle mich ganz komisch«, antwortete er mit gepreßter Stimme.»Diese Rolle. irgend etwas daran. «Dann drehte er seinen Kopf zum Arbeitszimmer und schien die Wand mit seinem Blick zu durchdringen, so daß er die Fotos auf dem Schreibtisch sehen konnte.»Poppäa Sabina.«, murmelte er, als versuchte er, zu verstehen.

«Ben, komm jetzt. Iß einen Krapfen und trink einen Schluck Kaffee. Du mußt jetzt wieder zu dir kommen, weil ich möchte, daß du mir etwas erklärst.«

Er richtete seinen stumpfen Blick auf sie.»Und meine Brille. «Während sie gegen den inneren Drang ankämpfte, zu schreien und ihn durch einen Klaps in die Wirklichkeit zurückzubeordern, zwang sie sich dazu, ihm ruhig eine Tasse Kaffee einzuschenken. Er trank sie gehorsam und ohne weitere Regung.

«Es gibt etwas, das ich an dieser Rolle nicht verstehe«, sagte sie laut und versuchte, ihn damit aus der Reserve zu locken.»Wann wurde sie geschrieben?«

Er gab keine Antwort, sondern fuhr fort, zu trinken und vor sich hin zu starren.

«Ben, wann wurde die Rolle geschrieben?«Sie legte eine Hand auf seinen Arm.»In welchem Jahr ist David nach Rom gefahren?«

Endlich trafen Bens Augen die ihren, und er begann langsam, sie klar und deutlich vor sich zu sehen.»Was?«

«Das Jahr, in dem David in Rom war? Welches Jahr war das? Wir haben eine Lücke zwischen Rolle neun und dieser hier, weil wir Rolle zehn verloren haben. Wir sind in der Zeit vorangeschritten. David war in der letzten Rolle zwanzig Jahre alt, und Sauls Sohn war gerade geboren worden. Jetzt sind sie alle älter.«

«Ach, das meinst du«, erwiderte Ben sachlich.»Das läßt sich leicht herausfinden. Wie alt, sagte David, war der Kaiser?«

«Sechsundzwanzig.«

«Und in welchem Jahr wurde Nero geboren?«

«Ich weiß nicht.«

Ben stand plötzlich auf, lief ins Arbeitszimmer und kam eine Minute später mit einem Lexikon zurück. Er blätterte bereits darin, als er wieder seinen Platz auf der Couch einnahm.»Nero. Nero. Nero. «brummte er, während er die Seiten überflog.»Da haben wir’s. «Er schlug mit der Hand auf die entsprechende Stelle.»Geboren im Jahr siebenunddreißig nach unserer Zeitrechnung. «Ben reichte Judy das Buch. Das aufgeschlagene Kapitel trug die Überschrift» Lucius Domitius Ahenobarbus (Nero)«. Der erste Abschnitt bezifferte die Lebensdaten des Kaisers mit siebenunddreißig nach Christus bis achtundsechzig nach Christus.

«Jetzt mußt du nur sechsundzwanzig zu siebenunddreißig hinzuaddieren, dann kommst du auf dreiundsechzig. Das ist das Jahr, in dem David in Rom war, im Jahr dreiundsechzig unserer Zeitrechnung. Das bedeutet, daß Rolle Nummer zehn wahrscheinlich die dazwischenliegenden acht Jahre abdeckte. In dieser Zeit muß sich eine Menge ereignet haben. Saras Bekehrung zu den Armen, zunehmender Wohlstand für David. Hingegen scheint es nicht so, daß Saul ebenfalls dem Heer der Nazaräer beigetreten ist. Ich frage mich, warum wohl.«

Judy schaute Ben forschend an. Plötzlich schien er wieder er selbst zu sein, als ob wenige Minuten vorher überhaupt nichts gewesen wäre. Sie beobachtete ihn, als er sich eine zweite Tasse Kaffee einschenkte und sich daran machte, einen Krapfen zu verzehren.»Rolle zehn«, sprach er mit vollem Mund weiter,»ergänzte diese fehlenden Jahre. Ich bedaure sehr, sie nicht zu haben.«

«Aber es bleiben uns ja immerhin noch sieben Jahre.«

Ben nickte. Er wirkte jetzt ruhig, entspannt und unbeschwert. Was auch immer ihn noch eine Minute vorher bedrückt hatte, jetzt war es vergessen und wie weggeblasen.»Die nächsten beiden Rollen werden diese sieben Jahre ausfüllen. Und sie werden die abscheuliche Tat enthüllen, die David beging. Er wird uns auch Aufschluß darüber geben, warum er kurz davor steht zu sterben.«

Judy nickte nachdenklich und starrte in ihre Tasse. Es fiel ihr schwer, mit Bens abrupten Persönlichkeitsschwankungen fertigzuwerden. Es war nicht leicht, ihm zu folgen, zu wissen, wie man ihn anpacken mußte oder was man als nächstes zu erwarten hatte. Als er endlich seine Tasse abstellte und verkündete:»Ich bin todmüde«, war sie sehr erleichtert.

«Ich gehe ins Bett. Morgen ist auch noch ein Tag, und wir werden eine weitere Rolle erhalten. «Ben erhob sich von der Couch und reckte seinen langen, mageren Körper. Dann hielt er einen Augenblick inne, um auf Judy herabzuschauen, und bemerkte aufs neue, wie klein sie doch wirkte.»He«, sagte er sanft,»es ist spät. Wir müssen uns schlafen legen.«

Aber Judy schüttelte den Kopf. Das Schlimmste an Bens plötzlichen Stimmungsänderungen war, daß er sie gar nicht wahrnahm. Sie wollte fragen:»Was war vor ein paar Minuten mit dir los? Was bringt dich dazu, daß du den Bezug zur Wirklichkeit verlierst?«Aber sie tat es nicht. Sie wußte, was er sagen und wie er reagieren würde. Er hätte keine Erinnerung daran, wie eigenartig er sich verhalten hatte, nachdem er die Rolle gelesen hatte. Und es wäre auch sinnlos, es ihm erklären zu wollen.

«Ich will noch eine Weile aufbleiben«, erwiderte sie abweisend. Ben langte herunter und legte seine Hand auf ihren Kopf.»Weißt du«, begann er mit gedämpfter Stimme,»ich habe dir nie dafür gedankt, daß du zu mir gezogen bist. Durch deine Anwesenheit erhält die Sache ein ganz anderes Gesicht.«

Judy blickte nicht zu ihm auf, rührte sich nicht. Für einen ganz kurzen Augenblick spürte sie, wie er mit der Hand über ihr Haar strich, dann zog er sie zurück, und sie hörte ihn aus dem Wohnzimmer gehen und die Schlafzimmertür hinter sich schließen.

Judy blieb noch eine Zeitlang sitzen, bevor sie schließlich aufstand und zum Fenster hinüberwanderte. Die Vorhänge waren aufgezogen und ließen die kalte, mitternächtliche Finsternis von draußen herein, während sich die Lichter aus der Wohnung auf der Fensterscheibe widerspiegelten. Sie erblickte darin auch ihr eigenes Spiegelbild, ein trauriger Abklatsch ihres früheren Ich — ein viel zu blasses Gesicht, das vor Sorge ganz schmal geworden war. Verloren blickte sie mit ausdruckslosen Augen hinaus auf die schlafende Stadt. Gefühle und jegliches Interesse waren Judy abhanden gekommen. Die Ereignisse der vergangenen Woche hatten sie aller Sicherheit und Charakterstärke beraubt und sie willenlos gemacht. Denn wie Ben war Judy letzten Endes auch nur eine Marionette, die von den hier wirkenden Kräften beliebig gesteuert werden konnte. Aber was waren das nur für Kräfte, die den Bewohnern dieser ruhigen Wohnung von West Los Angeles so übel mitspielten? Waren es übernatürliche Mächte, oder waren es nur Energien, die ihnen beiden innewohnten? Sie preßte ihr Gesicht gegen das kalte Glas. Warum bin ich hier? fragte sie sich gedankenverloren. Wie kam es eigentlich, daß ich in Ben Messers private Katastrophe verwickelt wurde? War es vom Schicksal vorherbestimmt?

Es ist fast, als wären wir beide hier zusammengebracht worden, um dieses eigenartige Stück durchzuspielen. Aber warum? Zu welchem Zweck?