Ohne darüber nachzudenken, drehte Judy sich um und lief durch das Zimmer, wobei sie alle Lichter löschte. Sie verabscheute das Licht; sie wollte Dunkelheit. Es war leichter, sich in der Dunkelheit zu verirren, leichter, in der Dunkelheit Vergessen zu finden. Als sie wieder ans Fenster trat, waren die Spiegelungen verschwunden, und alles, was sie sehen konnte, waren die skelettartigen Bäume, die die Straße säumten und sich im Wind bogen. Draußen sah es kalt aus. Kalt und bedrohlich.
Wie kann Wind kalt aussehen? dachte sie abwesend, ihre Stirn wieder gegen die Scheibe gepreßt. Wie kann man etwas beurteilen, was unsichtbar ist? Wie kann man Wind betrachten? Es ist wie mit David Ben Jona. Ich kann ihn nicht sehen, und doch.
Judy wandte sich langsam vom Fenster und den kahlen Bäumen draußen ab und begann, in die Tiefen der finsteren Wohnung zu starren. Sie konnte David nicht sehen und wußte doch, daß er anwesend war. Sie ließ ihre Augen zur Schlafzimmertür schweifen und dort eine Weile verharren, während sie über den seltsamen Mann nachdachte, der auf der anderen Seite schlief.
Was für eine unglaubliche Veränderung hatte Benjamin Messer in diesen letzten drei Wochen durchgemacht! Was für eine Krise mußte er bewältigen! Und warum?» Liegt es am Judentum?«fragte sich Judy, während vor ihrem inneren Auge staubige Straßen und Palmen vorbeizogen.»Oder ist es einfach eine Identitätsfrage?«Oder waren Identität und Judentum möglicherweise ein und dasselbe? Ein Mensch war einfach ein Jude. Ob Katholiken wohl genauso empfanden? Oder gab es am Judensein etwas, was sich von allen anderen Erfahrungen unterschied — wenn man davon ausging, daß Judentum und Identität so unentwirrbar miteinander verflochten waren? Sie starrte mit leerem Blick vor sich hin und achtete nicht auf die Bilder von sonnenverbrannten Straßen und überfüllten Marktplätzen, die ihr rastloser Geist heraufbeschwor. Sicherlich war Benjamin Messer nicht der einzige wichtige Faktor in diesem Spiel, obgleich möglicherweise die Hauptfigur. Daneben standen David Ben Jona, die geduldig leidende Rosa Messer, ihr Ehemann, der als Rabbiner den Märtyrertod gestorben war. Und schließlich Judy selbst. Ihre
Gedanken konzentrierten sich jetzt auf einen bestimmten Punkt. Statt sich weiter getrocknete Feigen, geschnürte Sandalen und weiße Gewänder auszumalen, blickte sie jetzt in ihr tiefstes Inneres. Und was sie dort sah, erschreckte sie. Als ob sie am Rand eines riesigen, unergründlichen Kraters stünde, fühlte Judy, wie sie von einem starken Gefühl der Leere überwältigt wurde. Eine unfaßbare Einsamkeit. Eine kalte Einöde, die sie so entsetzte, daß sie vor Verzweiflung aufschreien wollte. Der riesige, schwarze Krater, der mit einer tintenartigen Kälte gefüllt war und sich bis an die Grenzen der Vorstellungskraft ausdehnte, befand sich im tiefsten Innern ihrer Seele. In diesem schrecklichen Nichts war alles tot, denn kein Leben konnte hier gedeihen.
Die dunkle Wohnung, die schwarze Nacht draußen und die furchterregende Leere in Judys Seele hatten eines gemeinsam: die Finsternis wurde von keinem Licht erhellt.
Mehr Bilder blitzten vor ihr auf. Aleppokiefern, die sich gegen einen strahlendblauen Himmel abhoben. Der Duft nach Narde, der die Luft erfüllte. Die heiße Sonne, die auf staubige Straßen herunterbrannte.
Sie wandte sich davon ab. Kehrte dem Zauber des antiken Jerusalem den Rücken. Es wäre schön, dorthin zu entfliehen, ja, sich nur für einen Moment gehenzulassen und in der Vergangenheit Zuflucht zu suchen, um der Gegenwart nicht ins Auge sehen zu müssen. So, wie Ben es tat.
Judy blickte wieder hinüber zur Schlafzimmertür, und für einen kurzen Augenblick wurde ihr bewußt, daß Ben ungewöhnlich ruhig war.
Sie riß sich von den Offenbarungen ihres inneren Ichs und den flüchtigen Einblicken in die Vergangenheit los, durchquerte den dunklen Raum und öffnete die
Schlafzimmertür.
Ben lag völlig bekleidet auf dem Bett und schlief tief und friedlich. Als Judy behutsam näher trat, konnte sie den Ausdruck auf seinem Gesicht sehen, der sie überraschte. Ben lächelte fast unmerklich und schien sich in einem Zustand vollkommener Ruhe zu befinden. Judy starrte ihn ungläubig an. Mit Ausnahme der Nacht, in der sie ihm eine Schlaftablette verabreicht hatte, war es Ben nie vergönnt gewesen, so friedvoll zu schlafen. Auch hatte sie ihn nie zuvor jemals so gelöst gesehen. Als sie jetzt auf ihn hinabblickte, begann sie, in diesem Gesichtsausdruck eine tiefere Bedeutung zu erkennen. Es waren Anzeichen der Kapitulation, der völligen Aufgabe. Judy hob jäh den Kopf und sah sich im Zimmer um. Irgend etwas stimmte nicht. Irgend etwas stimmte ganz und gar nicht. Seltsam beunruhigt verließ Judy auf leisen Sohlen das Schlafzimmer, schloß sachte die Tür und kehrte zu ihrem Wachtposten am Fenster zurück. Das Glas an ihrem heißen Gesicht fühlte sich angenehm kühl an. Sie hätte eigentlich froh darüber sein sollen, daß Ben so gut schlief. Und doch war sie es nicht. Sein Gesichtsausdruck ließ nichts Gutes ahnen. Als sie die schweren Wolken am Himmel dahinziehen sah, dachte Judy: Warum tust du uns das an? Warum bist du hierhergekommen? Und was bist du eigentlich, David Ben Jona, ein Freund oder ein Feind? Stehst du neben ihm und wachst über ihn, um ihn zu beschützen, oder wartest du nur auf einen Augenblick der Schwäche.?
«O Gott!«stieß sie hervor und hielt sich die Hände vor den Mund.»Was geschieht nur mit mir?«
Judy fuhr herum; versuchte angestrengt, in der Dunkelheit etwas zu erkennen.
«Wonach suche ich? Verliere ich jetzt auch meinen Verstand?«fragte sie sich verstört.
Während sie vor sich hin starrte, tauchten immer neue Bilder in ihrem Geist auf. Die dunkle Wohnung wurde plötzlich von strahlender Helligkeit durchflutet, und sie blickte auf einen grünen Hang, der mit weißen Lilien und roten Anemonen bewachsen war. Sie sah die Feigen- und Olivenbäume und einen Jungen, der eine kleine Herde Ziegen hütete.
«O Gott, ich will dir helfen, Ben«, flüsterte sie heiser.»Ich will dir helfen, weil ich dich liebe, aber ich weiß nicht, wie. Ich weiß nicht, wie ich gegen dieses Etwas ankommen soll! Wie kann ich einen Geist bekämpfen?«
Sie roch Olivenöl, das in einer Lampe verbrannte, und schmeckte herben Käse auf ihrer Zunge.»Es ist stärker als ich, Ben. So, wie du am Ende aufgegeben hast, unterliege ich jetzt ebenfalls. «Tränen rannen an Judys Wange herunter. Sie zitterte am ganzen Körper. Die große Leere tauchte aus ihrer Seele empor, um die Wärme und das Leben der antiken Vergangenheit zu verschlingen. Ein Donnerschlag vertrieb das Phantasiebild. Sie war wieder in der dunklen Wohnung. Draußen begann der Regen gegen das Fenster zu trommeln.
Judy wandte sich um und schaute hinaus. Weitere krachende Donnerschläge. Ein Blitz. Und in dem kurzen Augenblick der Helligkeit sah sie die Kuppel des Tempels und die starken Mauern der Antonia-Festung.
«Wo fällt der Regen?«murmelte sie traurig.»Hier oder. oder dort?«
Die Zeit verstrich, während Judy wie versteinert am Fenster stand. Sie war versunken in einem Meer von Fragen, auf die sie keine Antwort bekam. Es gab keine Lösungen zu den Problemen, die in ihrem Geist aufgeworfen wurden, nur immer mehr Rätsel. Judy hatte einen flüchtigen Eindruck von der Leere gewonnen, die ihr Leben bestimmte. Jetzt überlegte sie sich, was sie wohl veranlaßt haben mochte, zu dieser unmöglichen Stunde plötzlich ihr ganzes Dasein in Frage zu stellen.
Und wieso konnte sie mit einem Mal Dinge sehen, die sie sich nie zuvor ausgemalt hatte? Stand sie ebenfalls kurz davor, sich angesichts der Macht, die der Geist David Ben Jonas ausübte, geschlagen zu geben? Kurz vor Tagesanbruch wurde Judy aus ihren Gedanken gerissen. Während dieser ruhigen Stunde vor Sonnenaufgang, da ein leichter Regen fiel und sie fühlte, daß sie den Antworten allmählich näher kam, geschah etwas, das sie vor Schrecken erstarren ließ. Sie hörte keinen Laut und kein Geräusch und bemerkte auch sonst kein äußeres Anzeichen. Es schien ganz einfach, als ob die Dunkelheit sich um sie herum bewegte. Die Luft hatte sich verändert, und sie spürte, daß irgend etwas anders war. Eine unheimliche Vorahnung ließ sie herumfahren.
Die Schlafzimmertür war offen, und Ben stand dort, bewegungslos und stumm.
Ein eisiges Frösteln durchfuhr Judys Körper, und sie begann unwillkürlich zu schlottern.
Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Mund leicht geöffnet. Plötzlich überkam sie sonderbare Angst. Irgend etwas war geschehen.»Ben.«, flüsterte sie.
Er kam ein paar Schritte auf sie zu, langte dann hinunter und schaltete das Licht ein.
In diesem Augenblick wurde Judy der Grund für ihre Angst bewußt. Und als sie seine Augen sah, schrie sie auf. Sie schrie sehr lange.
Kapitel Sechzehn
Die Veränderung fiel Judy sofort auf. Bens Augen waren nicht mehr blaßblau, sondern dunkelbraun.
Er stand vor ihr und blickte mit einem Lächeln auf den Lippen fast mitleidvoll auf sie herab.»Judith.«, sagte er mit einer unwiderstehlich weichen Stimme.
Als er sich ihr einen Schritt näherte, wich sie zurück.»Warum fürchtest du dich vor mir, Judith?«
«Ich. «Sie suchte krampfhaft nach einer Antwort. Doch es gab keine. Sie konnte nur verwundert den Kopf schütteln und ihr Herz klopfen hören. Ihre Kehle war vom Schreien heiser geworden. Und nun folgte auf den Schock tiefe Bestürzung.
«Wie kannst du dich nach so langer Zeit noch vor mir fürchten?«fragte er sanft.»Judith. «Ben streckte beide Hände nach ihr aus, und Judy schreckte erneut zurück.»Weißt du denn nicht, wer ich bin?«
«Wer. bist du?«
«Ich bin David«, erklärte er mit einem beteuernden Lächeln.»Nein!«schrie Judy und schüttelte heftig den Kopf.»Sag das nicht!«
«Aber es ist wahr.«
«Und wo ist Ben?«
«Ben? Ach so, der hat niemals existiert. Es hat nie einen Benjamin Messer gegeben.«
«O Gott«, wimmerte Judy. Tränen schossen ihr in die Augen und ließen ihn vor ihr verschwimmen.»Ich will, daß Ben zurückkommt. O Gott, was ist nur geschehen?«
Bens Gesichtsausdruck änderte sich und verriet nunmehr Besorgnis.»Bitte, es ist doch nicht meine Absicht, dich zu erschrecken. Weiche nicht vor mir zurück, Judith. Ich brauche dich.«
«O Ben«, entfuhr es ihr. Als ihre Tränen zu fließen begannen, unterdrückte sie ein Schluchzen.»Was. was ist mit deinen Augen passiert?«
Er zögerte einen Augenblick und überlegte. Dann meinte er lächelnd:»Es ist interessant, nicht wahr, daß sie jetzt eine andere Farbe haben? Ich kann es dir nicht erklären, doch ich nehme an, daß dieser Veränderung eine große Bedeutung zukommt.«
Judy starrte den Mann vor sich verstört an, während sie jede Sekunde erwartete, aus diesem Alptraum zu erwachen.
Er fuhr fort:»Es hat nie einen Benjamin Messer gegeben, weil ich schon immer David Ben Jona war. Ich habe über so viele Jahre hinweg geschlummert. Erst die Schriftrollen haben in mir mein eigenes Ich zum Bewußtsein erweckt und mich daran erinnert, wer ich wirklich war. Und jetzt bin ich zurückgekommen, um wieder zu leben. Verstehst du?«
Nein, es lag nicht nur an seinen Augen; das wurde Judy allmählich klar. Zwar, stellten sie die einzige körperliche Veränderung an ihm dar, doch es hatte sich noch ein anderer Wandel an ihm vollzogen. Es war sein Auftreten, seine ganze Haltung. Ruhig und selbstsicher war dieser Mann, nicht derselbe nervöse, von Ängsten geplagte Mensch, der ihr wenige Stunden zuvor gute Nacht gesagt hatte. Dieser Fremde mit dem blonden Haar und den dunkelbraunen Augen wirkte völlig entspannt und selbstbewußt. Er stand in lässiger Haltung vor ihr und sprach in einem Ton, der einen völlig gelösten und von sich selbst überzeugten Mann verriet.
«Ich weiß, daß es schwer für dich sein muß«, hörte sie ihn sagen,»und daß du Zeit brauchen wirst, um dich an mich zu gewöhnen. Bis jetzt hast du mich ja bloß für einen Geist gehalten. «Er sprach diese Worte mit einem winzigen, kaum wahrnehmbaren Akzent. Deutsch? Hebräisch?
«Wird Ben zurückkommen?«fragte sie im Flüsterton.»Er kann nicht zurückkommen, weil er nie existierte. Weißt du, als ich Benjamin war, glaubte ich zuerst, David verfolge mich. Dann dachte ich, er wolle von mir Besitz ergreifen. Doch diese Annahmen waren falsch, denn ich war ja die ganze Zeit über David. Benjamin war derjenige, den es nie gab.«
Von einer plötzlichen Übelkeit ergriffen, wandte Judy sich jäh von ihm ab und preßte ihre Hand auf den Bauch.»Warum weist du mich zurück?«fragte er fast flehentlich.»Ich. ich weise dich nicht zurück«, hörte sie sich selbst antworten.»Ich lehne es nur ab, dir zu glauben.«
«Aber du wirst es schon noch tun. Siehst du, das erklärt so vieles. Letzte Nacht, als wir die Rolle lasen. «Er ging lässig an ihr vorbei und nahm auf der Couch Platz.»Als wir gestern nacht die Rolle lasen, da fiel mir auf, daß es an dem Abschnitt über Poppäa Sabina etwas Merkwürdiges gab. Erinnerst du dich?«
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