Doch der Mann, der sie weiter geheimnisvoll anlächelte und mit seinen tiefsinnigen, dunklen Augen liebevoll anblickte, war nicht Benjamin Messer.
Es war unvorstellbar, daß die nächste Rolle an diesem Nachmittag eintreffen würde, und doch war es so. Nummer zwölf kam wie gewöhnlich als Einschreiben und erforderte die übliche Unterschrift. Aber diesmal wurde sie anders in Empfang genommen. Anstelle der Erregung und Unruhe, die Ben beim Erhalt der vorangegangenen Rolle an den Tag gelegt hatte, wurde Rolle Nummer zwölf mit Gelassenheit und stiller Freude entgegengenommen. Ben stieg in aller Seelenruhe die Treppe hinauf und betrat die Wohnung. Dann lief er voll Bedacht umher, legte Heft und Bleistift zurecht und stellte das Licht richtig ein. Pfeifenhalter, Tabaksbeutel und Aschenbecher waren vom Schreibtisch entfernt und aus dem Blickwinkel verbannt worden — sie waren nicht länger notwendig. Poppäa Sabina, die sich auf dem Drehstuhl zusammengerollt hatte, machte einen Buckel und fauchte Ben an, als er sich näherte. Dann sprang sie vom Stuhl und schoß wie ein Pfeil aus dem Zimmer. Ben schüttelte nur den Kopf.
Judy blieb zögernd an der Tür stehen und beobachtete ihn, wie er sich langsam darauf vorbereitete, die nächste Rolle in Angriff zu nehmen. Das war nicht der Ben, den sie früher gekannt hatte, der zu diesem Zeitpunkt die Fotos schon herausgezerrt, den Umschlag auf den Fußboden geworfen und bereits die ersten Worte übersetzt hätte, noch bevor er sich hingesetzt hatte.
Als er aufblickte und sie im Türrahmen stehen sah, fragte er:»Bist du nicht interessiert?«
«Doch schon.«
«Nun, dann komm und setz dich neben mich. Lies, während ich schreibe. Wir werden diese Tage meines Lebens noch einmal miteinander durchleben.«
Während Judy einen Stuhl heranzog und sich neben ihn setzte, murmelte sie:»Weißt du nicht bereits, was darin steht?«Doch er gab keine Antwort.
Rolle Nummer zwölf befand sich in erbärmlichem Zustand. Sie setzte sich aus sechs Bruchstücken zusammen, deren Kanten zerfressen waren; mitten auf der Seite klafften Löcher, und stellenweise war die Handschrift unleserlich. Doch was verblieb, war noch immer ein großer Teil und sehr informativ.
Ich kehrte heim in ein von politischen Unruhen geschütteltes Judäa. Meine Landsleute sahen sich immer weniger imstande, die Anwesenheit unserer römischen Oberherren hinzunehmen, und ich gewahrte überall Anzeichen des Aufruhrs. Salmonides und ich waren beide zutiefst erschrocken, als wir entlang der Straße nach Joppe so viele Kreuze sahen, und fragten uns verwundert, ob die Zelotenbewegung in unserer Abwesenheit derart Zulauf bekommen hatte. Wir sahen auf den Straßen auch wesentlich mehr römische Legionen als früher, viele von ihnen bis zu den Zähnen bewaffnet und von Rom neu ausgerüstet, und wir erkannten, daß uns unruhige Zeiten bevorstanden.
Aber nach einer Abwesenheit von so vielen Monaten war es schön, wieder unter Freunden zu sein und meine Lieben in die Arme zu schließen. Sie hatten sich alle in meinem Haus zusammengefunden: Saul und Sara und der kleine Jonathan; Rebekka und unsere Freunde von den Armen und sogar Jakob, der in seinen weißen Gewändern abseits der Gruppe stand und sich in asketisches Schweigen hüllte. Saul wusch meine Füße, als ich hereinkam, und ich bemerkte, daß er Tränen in den Augen hatte. Er sprach:»Wahrlich, es ist ein freudiger Tag, der mir meinen Bruder zurückgebracht hat! Wir haben dich vermißt, David, und jeden Tag gebetet, daß dir in Babylon nichts zustoßen möge.«
Ich bemerkte, daß er seine besten Kleider trug und daß er seinen Gesetzesunterricht heute hatte ausfallen lassen, um den ganzen Tag mit mir zu verbringen. Dann kam Rebekka zu mir. Sie fiel mir um den Hals und küßte mich und ließ ihre Tränen ungehindert auf meine Schulter fließen. Wenn sie auch tief im Herzen vor Sorge vergangen war, so sprach sie es dennoch nicht aus. Auch erinnerte sie mich mit keinem Wort an die Einsamkeit, unter der sie in meiner Abwesenheit gelitten hatte. Rebekka war eine gute Frau, die wußte, daß ich aus Notwendigkeit gehandelt hatte.
So hielt ich sie auf Armeslänge von mir weg und versprach:»Es wird in Zukunft keine Reisen nach Rom mehr geben, meine Liebste, denn ich habe genug gesehen.«
Als nächster begrüßte mich der kleine Jonathan, dessen Wiedersehensfreude keine Grenzen kannte. Er drückte mich an sich und küßte meine Wangen und plapperte, ohne Luft zu holen, über all die Dinge, die ich versäumt hatte, während ich weg gewesen war. Und mein Herz lachte vor Freude, ihn zu hören und ihn anzuschauen, denn ich liebte den kleinen Jonathan innig. Er hatte Sauls Gabe, schnell Freundschaft zu schließen, und er hatte das schöne Gesicht seiner Mutter. Doch tief im Herzen wußte ich, daß ich Jonathan so übermäßig liebte, weil ich noch immer kein eigenes Kind hatte und daran schier verzweifelte.
Als Sara zu mir trat, um mich willkommen zu heißen, wurden meine Knie weich, und mein Herz schrie auf, denn sie war noch immer die eine Frau, die ich über alles liebte, und es war ihr Bild gewesen, das ich in den endlosen Nächten auf See vor mir gesehen hatte. Seitdem sie den Armen beigetreten war und viel Zeit in der Gesellschaft von Miriam und den anderen Frauen verbrachte, war Sara noch schöner und strahlender geworden, Ihr Glaube an Gott und an die Wiederkehr des Königreichs Israel hatten ihr eine besondere innere Schönheit und eine Ruhe verliehen, die sich in ihren Augen widerspiegelten.
Seit dem Tag im Olivenhain hatten wir nie wieder von Liebe gesprochen. Doch man kann sich einander auch auf andere Art als durch Worte mitteilen, und an diesem Tag sah ich auf ihrem Gesicht und in ihren Augen, daß sie mich noch immer liebte. Jakob, der Führer der Armen, wartete, bis alle mich begrüßt hatten, bevor er selbst zu mir trat und mir den Friedenskuß gab. Dann sprach er:»Bruder, es bereitete uns großen Kummer, dich in Babylon zu wissen, während wir stets in dem Bewußtsein lebten, daß das Königreich Gottes nahe bevorstand. Josua wird vielleicht schon morgen vor den Toren Jerusalems stehen, und wir befürchteten, daß du an diesem glorreichen Tage noch immer fern von uns weilen könntest. Aber jetzt bist du zurück und wirst das zweite Kommen des Messias nicht versäumen.«
Jakobs stechende Augen drangen in meine Seele vor, und ich sah in seinem Blick den festen Glauben an die bevorstehende Wiederkunft seines Bruders. Er ergriff meine Arme und sprach kein Wort mehr, aber in seinem Gesicht konnte ich seine Gedanken lesen. Er sagte mir, daß dies wirklich die letzten Tage seien, von denen die Propheten gesprochen hatten, denn allerorten herrsche Unruhe und Aufregung. Dies waren die Weissagungen von Jesaja, Jeremia und Daniel: Es wird eine Zeit kommen, da ein Greuel der Verwüstung herrschen wird und das Königreich Zion wiederhergestellt wird.
In meiner Abwesenheit hatten meine Weinberge und Ölpressen mich zu einem noch wohlhabenderen Mann gemacht, so daß ich selbst viele adlige Familien in Jerusalem an Reichtum übertraf. All dies verdankte ich meinem Freund Salmonides, der mit den Jahren nicht zu altern schien und dessen scharfer Verstand nie nachließ. Er verhielt sich auch weiterhin ehrlich und treu und nahm nie mehr als das ihm zustehende Honorar, aus dem ihm mit der Zeit ebenfalls ein kleines Vermögen erwachsen war. Wenn ich ihn pries, winkte er ab und meinte, ich sei der Pfiffige, und er sei nur mein Verwalter. Wie dem auch sei, als ich ein Alter erreichte, in dem die meisten Männer voller Stolz einen kleinen Laden ihr eigen nennen oder sich mit einem Fischerboot zufriedengeben, sprach sich der Reichtum von David Ben Jona allmählich herum, und ich war ein einflußreicher Mann.
Als Mitglied der Armen teilte ich sehr viel von meinem Besitz mit der riesigen Glaubensgemeinschaft, die ständig an Größe zunahm. Neben Jakobus und den Zwölfen predigten nun auch andere Gefolgsmänner in den Städten und auf dem Land von dem Königreich, das kommen sollte, und von dem Meister, der bald zurückkehren würde. Und wenn die Juden allenthalben die Schwerter der Römer erblickten und die Zeloten an Kreuzen hängen sahen, da wußten sie in ihren Herzen, daß die Endzeit tatsächlich begonnen hatte. So wuchs unsere Anhängerschaft unglaublich rasch, bis die Zahl unserer Mitglieder in die Zehntausende ging.
Und während in vielen Häusern Jerusalems mit Brot und Wein das Abendmahl begangen wurde, während sich immer mehr Juden taufen ließen und das Glaubensbekenntnis des Neuen Bundes ablegten, blieb mein Freund und Bruder Saul weiterhin ein Außenstehender.
In mancherlei Hinsicht erinnerten mich die Diskussionen mit ihm an jene, die ich vor Jahren mit Eleasar geführt hatte, als
Simon dabei gewesen war, mich zu überzeugen. Denn jetzt führte ich Saul gegenüber Simons Worte im Munde, und aus seinen Argumenten sprach Eleasar.
«Die Zeit, in der Gott das Königreich Israel neu errichten wird, ist noch nicht gekommen«, versicherte Saul.»Was du in dem Buch Daniel gelesen hast, hast du falsch ausgelegt. Die Zeit, da der Messias von Israel unter uns erscheinen wird, liegt noch in weiter Ferne.«
Dann zitierte ich ihm Jesaja und Esra und Jeremia, um ihm zu beweisen, daß meine Auslegung der Prophezeiungen die richtige sei.»Es sind die letzten Tage, mein Bruder Saul; du kannst es ja überall sehen. Es sind gewaltige Umwälzungen im Gange. «Saul schüttelte nur den Kopf.»So war es auch zur Zeit der Makkabäer«, entgegnete er.»Doch kein Messias kam.«
«Aber diese hier sind schlimmere Zeiten«, gab ich zu bedenken. Und so gingen unsere Argumente hin und her. Saul war ein guter Rabbi und im Tempel sehr begehrt. Er war ein frommer Jude und kannte den Wortlaut des Gesetzes besser als irgendein anderer. Und so stimmte es mich traurig, daß er nicht an die Rückkehr unseres Meisters glaubte. Denn dies würde ein glorreicher Tag sein, und Zion würde wieder neu erschaffen.
Es begab sich, daß wir Kunde von der Feuersbrunst in Rom erlangten, die große Teile der Stadt zerstört und Krankheit und Hunger über Rom gebracht hatte. Und wir hörten auch, daß unser alter Freund und Bruder Simon in der Arena hingerichtet worden war, da man ihn verdächtigt hatte, an der Legung des Feuers beteiligt gewesen zu sein.
Wir von den Armen versammelten uns in Miriams Haus und sprachen Gebete und sangen Psalmen zum Andenken an diesen Mann, der einst des Meisters bester Freund gewesen war und als erster den Messias in ihm erkannt hatte.
Und wir beteten in dieser Nacht auch, weil wir fühlten, daß der Tod Simons — der seinen Namen in Petrus geändert hatte — und seines Freundes Paulus nur als Ankündigung der letzten Tage gedeutet werden konnte. Nun, da Josuas bester Freund um seinetwillen den Märtyrertod gestorben war wie vor ihm schon Stephanus und Jakobus, der Sohn des Zebedäus, müßte unser Meister zu seinem Volk zurückkehren und es zum Sieg über die Unterdrücker führen. Doch es standen uns noch schlimmere Zeiten bevor. Viele unter den Armen waren Zeloten. Diese Männer gingen nun dazu über, sich zu bewaffnen. Selbst unter den Essenern, die in der Vergangenheit jegliche kriegerische Auseinandersetzung abgelehnt hatten, griffen viele nun zum Schwert, weil sie glaubten, der Kampf zwischen Licht und Dunkelheit stünde nahe bevor. Sie sagten:»Der Messias von Israel steht schon fast vor den Toren, und er wird uns nicht unvorbereitet antreffen. Er ging fort, damit wir die Botschaft verkündigen und das Wort verbreiten sollten; aber nun ist er auf der Straße, die zur Stadt führt, und wir müssen bereit sein, für Zion zu kämpfen.«
Obgleich ich dem nicht zustimmte und selbst nicht zum Schwert griff, wollte ich meinen Glaubensbrüdern nicht das Recht aberkennen, sich zu bewaffnen. Denn es waren die letzten Tage. Ironischerweise trug Saul nun ein Schwert bei sich, denn er hatte Berichte über Aufstände in ganz Galiläa und Syrien gehört. Von Dan bis Beerscheba begannen Juden sich gegen die Unterdrückung durch Rom aufzulehnen.
Bis spät in die Nacht saßen wir von den Armen in unseren Häusern beim Abendmahl zusammen und horchten auf die Trompeten, welche die Ankunft des Messias verkünden würden. Und in diesen Nächten beobachtete ich Sara, die ihre Arme um Jonathan geschlungen hatte und mit gesenktem
Haupt ins Gebet vertieft war, und ich freute mich, daß sie so gläubig war.
Im Frühling des folgenden Jahres schändete Prokurator Gessius Florus den Tempelschatz. Von da an hatten wir keine Stunde Frieden mehr.
Judy starrte auf die unregelmäßige Handschrift im Übersetzungsheft und konnte sich nicht erinnern, sie gelesen zu haben. Ben war den ganzen Abend, bis spät in die Nacht hinein damit beschäftigt gewesen, das aramäische Schriftstück zu entziffern, und Judy hatte jedes Wort gelesen, sowie er es niedergeschrieben hatte. Doch nun, da es keinen Papyrus mehr zu lesen gab und die letzte Zeile übersetzt war, kam es ihr vor, als sähe sie das Notizpapier zum erstenmal. Auch Ben schien verwirrt auf das zu starren, was er gerade geschrieben hatte. Er hielt den Bleistift noch immer über dem Blatt, und seine Hand wartete darauf, mehr zu schreiben. Doch das sechste Teilstück war jäh zu Ende gegangen und ließ sie beide ratlos zurück. Es verging eine Weile, bevor sie aus ihrer Starre erwachten, und es war Judy, die sich als erste regte. Plötzlich wurde sie sich starker Rückenschmerzen bewußt und bemerkte, wie verspannt ihr Körper war, und so befreite sie sich langsam aus der Haltung, in der sie so lange ausgeharrt hatte, und schaute auf die Uhr.
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