Ein lautes Krachen ertönte aus dem offenen Kamin, ein paar Funken flogen, und Ben kehrte in die Gegenwart zurück. Angie war aufgestanden und bürstete sich vor dem Spiegel die Haare. Er beobachtete sie dabei, während ihr bronzefarbenes Haar den Schein des Feuers widerspiegelte. Sie waren übereingekommen, zwischen zwei Semestern zu heiraten, und bis dahin lagen noch viele Wochen vor ihnen. Sie wollte ihre Einrichtung verkaufen und in seine Wohnung ziehen. Der einzige Grund, weshalb sie nicht schon jetzt zusammenlebten, war seine Arbeit. Dafür brauchte er Zurückgezogenheit, Ruhe und Einsamkeit.

«Vielleicht bekommst du ja morgen etwas«, tröstete sie ihn, als sie sein Gesicht hinter sich im Spiegel sah.

«Hoffentlich. «An diesem Nachmittag war er gleich im Anschluß an sein kurzes Gespräch mit Judy Golden nach Hause geeilt und hatte dort nur einen gähnend leeren Briefkasten vorgefunden.»Die nächste Rolle könnte möglicherweise noch weltbewegender sein. «Ben fühlte, wie sich seine Stirn in Falten legte. Inwiefern würde sich sein Leben durch die Heirat ändern? Wie konnten sie sich einigen, damit ihm seine gewohnte Privatsphäre auch dann erhalten bliebe, wenn Angie einzog? Sie hatte zwar versprochen, ihn nicht bei der Arbeit zu stören und nicht in sein Zimmer zu kommen, während er übersetzte. Und dennoch wurde er an Abenden wie diesem von winzigen Zweifeln beschlichen. Angie bestand darauf, ins Kino zu gehen. Es geschehe zu seinem eigenen Besten, meinte sie, wenn sie ihn dazu bringen konnte, sich ein wenig zu entspannen und seine Schriftrollen zu vergessen. Aber Ben war sich nicht sicher, ob er das wirklich wollte.

Am Montagmorgen fühlte er sich endlich wieder normal. Übers Wochenende hatte er viel Zeit allein verbracht und nachgedacht. Das hatte ihm geholfen, die Dinge wieder etwas klarer zu sehen. Schließlich war er Wissenschaftler und kein Romantiker. Nur weil die ersten drei Fragmente in einem so guten Zustand gewesen waren und solchen Zündstoff geboten hatten, hieß das noch lange nicht, daß das übrige Material aus dem Versteck in den Ruinen von Migdal ebenso ergiebig war. Er mußte sich auf eine Enttäuschung gefaßt machen und seine Hoffnungen nicht noch höher schrauben. Den ganzen Samstag und Sonntag über hatte er am alexandrinischen Kodex gearbeitet und Randall dann einen ausführlichen Tätigkeitsbericht geschickt.

Seine äußere Ruhe und seine Unvoreingenommenheit als Wissenschaftler wurden jedoch jäh erschüttert, als er am Montagnachmittag den Briefkasten öffnete und ihm daraus ein leicht beschädigter Briefumschlag mit israelischen Marken in die Hände fiel. Mit Überraschung stellte er fest, daß seine Handflächen schwitzten, als er seine beinahe schon rituellen Vorbereitungen für die Arbeit traf.»Ich bin aufgeregter, als ich dachte«, sagte Ben zu sich selbst. Dann lachte er leise. Er wußte, weshalb.»Niemand hat vor Tutenchamuns Grab von

Howard Carter gehört! Und noch hat niemand von Benjamin Messer gehört!«

Er ging durch das Zimmer und löschte alle Lichter, außer seiner Schreibtischlampe, so konnte er sich am besten auf seine Arbeit konzentrieren. Dann legte er ein paar Platten von Bach und Chopin auf und drehte den Ton ganz leise. Er schenkte sich ein Glas Wein ein, vergewisserte sich, daß sich der Pfeifentabak in Reichweite befand, und nahm seinen Platz am Schreibtisch ein.

Er wischte sich die Handflächen an den Hosen ab. Ben war allgemein für sein unbekümmertes Wesen und seinen Sinn für Humor bekannt. Er lächelte viel und lachte oft und versuchte, die Dinge nicht zu ernst zu nehmen. Wenn jedoch seine Leidenschaft für alte Manuskripte ins Spiel kam, so wurde er schnell ernst. Er achtete die unbekannten Männer, über deren Wörter und Sätze er ganze Tage in mühevoller Arbeit zubrachte. Er ehrte ihre Ideale, ihre Hingabe und die Frömmigkeit, mit der sie ihre heiligen Worte niedergeschrieben hatten. Ben schätzte diese gesichts- und namenlosen Männer und hatte sogar ein wenig Ehrfurcht vor ihnen. Meistens stimmte er nicht mit ihren religiösen Anschauungen und ihrem nationalen Eifer überein. Ihre Überzeugungen waren nicht die seinen, und trotzdem bewunderte er sie wegen ihrer Inbrunst und Standhaftigkeit. Und jedesmal, wenn er sich einen neuen Text vornahm, verweilte er einen Augenblick, um sich des längst vergessenen Mannes zu erinnern, der ihn geschrieben hatte.

Diesmal waren es vier Fotos, die sich in einem versiegelten Innenumschlag befanden, an dem ein fehlerhaft getippter Brief von John Weatherby festgeklammert war. Dieses Schreiben las Ben zuerst. Der alte Archäologe berichtete in knappen Sätzen über die sich ausbreitende Neuigkeit von dem Fund und über die Aufregung, die dadurch entstanden war. Er sprach von vier weiteren Tonkrügen, die gefunden worden seien, von dem beklagenswerten Zustand von zweien der Schriftrollen und von der Hektik, mit der er zwischen Jerusalem und der Ausgrabungsstätte hin- und herhetzte. Weatherbys Brief endete mit den Worten:»Es tat uns leid, als wir die Rolle Nummer vier so stark beschädigt vorfanden. Und als wir feststellten, daß Rolle Nummer drei wegen eines Sprungs im Tonkrug nur noch als Teerklumpen geborgen werden konnte, waren wir alle sicher, daß der Fluch Mose auf uns lastete!«

Ben lächelte schmerzlich bei diesen letzten Zeilen. Es gab nicht wenige Leute, insbesondere Journalisten, die den Fluch des alten David Ben Jona begierig aufgreifen und zur Sensation hochjubeln würden. Man erinnere sich nur, was sie aus dem Fluch Tutenchamuns gemacht hatten! Er schüttelte den Kopf. Der Fluch Mose, freilich! Und was wird geschehen, wenn Weatherby mein Telegramm erhält? Dann wird jeder erfahren, wann David seine Beichte abgefaßt hat, und wenn das erst einmal durchsickert, wird es keine Ruhe mehr geben.

Ben malte sich in Gedanken die Schlagzeile aus: SCHRIFTROLLE AUS DER ZEIT JESU IN GALILÄA GEFUNDEN. Das wäre genug, um einen weltweiten Rummel auszulösen. Sag nur» erstes Jahrhundert «und» Galiläa«, und du hast rings um dich her eine Massenhysterie. Und wenn man dann noch einen antiken Fluch ins Spiel bringt. Schließlich löste Ben die Klammer und ließ die vier Fotos vorsichtig herausgleiten. An jedem von ihnen haftete in der rechten oberen Ecke eine Zahl, um auf die Reihenfolge hinzuweisen. Sie waren in der Abfolge aufeinandergelegt, in der sie gelesen werden sollten. Er steckte die anderen drei zurück und nahm sich das erste vor. Es zeigte zerfetzten Papyrus, der vor einem neutralen Hintergrund aufgenommen worden war. Sofort erkannte er David Ben Jonas Handschrift. Dieses Bruchstück maß sechzehn auf zwanzig Zentimeter, befand sich in relativ gutem Zustand und war in Aramäisch geschrieben.

Es ist gut für einen Mann, seinen Vater zu kennen, aber Du wirst über mich nur das erfahren, was ich Dir mitteile. Wisse, mein Sohn, daß Dein Vater David als Sohn von Jona Ben Ezekiel und seinem guten Weib Ruth vom Stamme Benjamins in der Stadt Magdala geboren wurde. Man schrieb damals das zwanzigste Herrschaftsjahr des Imperators Tiberius Claudius Nero, in dem Paulus Fabius Persicus und Lucius Vitellius Konsuln waren. Es war Dezember und das achtunddreißigste Jahr des Herodes Antipas, Tetrarch von Galiläa und Peräa.

«Guter Gott!«murmelte Ben erstaunt.»David Ben Jona, wirst du niemals aufhören, mich zu verblüffen?«

Er legte den Kugelschreiber nieder und massierte sich die Schläfen. Ben hatte Kopfschmerzen, die immer stärker wurden, und er wußte, daß sie von seiner wachsenden Anspannung und Aufregung herrührten. Zweifelnd starrte er wieder auf diesen ersten Abschnitt. Seine Bedeutung war schwindelerregend.

Die Tatsache, daß David bei seinen Zeitangaben sehr genau gewesen war, stellte wahrscheinlich sein größtes Geschenk an die Menschheit dar. Nicht, daß er damit etwas wirklich Weltbewegendes sagte. Aber die Bedeutung lag darin, daß er so feste Richtlinien für eine andernfalls unsichere Wissenschaft geschaffen hatte. Viele andere Manuskripte in Museen auf der ganzen Welt, die nur im nachhinein mit mutmaßlichen Datumsangaben versehen worden waren, könnten jetzt mit Davids Alphabet und Handschrift verglichen und zeitlich genauer bestimmt werden. Mit seinen eigenen Worten hatte der alte Jude den offiziellen Titel des Herodes bestätigt und dessen Herrschaftszeit mit der des Tiberius, des unmittelbaren Nachfolgers von Kaiser Augustus, in Verbindung gebracht. In diesen wenigen Zeilen hatte David Ben Jona durchblicken lassen, daß Magdala größer gewesen sein mußte, als man bisher vermutet hatte. Er gab sich auch selbst als ein weltlich gesinnter Mann zu erkennen, der gebildet und wahrscheinlich sogar ein Gelehrter war, obgleich er nicht hellenisiert war.

War das möglich? Ben putzte geistesabwesend seine Brille mit einem Hemdzipfel. Konnte ein solch weltlicher Jude wie dieser sich dem Einfluß seiner hellenistischen Umgebung entziehen und sein Judentum weiterhin bewahren? Wenn man Hillel und Gamaliel betrachtete, ja. Wenn man Saulus von Tarsus als Beispiel heranzog, ebenfalls.

Ben schauderte plötzlich. Als er noch einmal die Zeilen überflog, die er bereits übersetzt hatte, um sich von der Richtigkeit der Zahlen zu überzeugen, blieb er an dem Jahr des Kaisers Tiberius hängen. Im zwanzigsten Jahr. Tiberius hatte fast dreiundzwanzig Jahre lang regiert, von vierzehn bis siebenunddreißig nach der Zeitrechnung. Das würde bedeuten, daß David Ben Jona am dreizehnten Dezember im Jahr vierunddreißig nach der Zeitrechnung zur Welt gekommen war. Geboren war er im Jahr vierunddreißig nach der Zeitrechnung, und er hatte die Schriftrollen um siebzig nach der Zeitrechnung verfaßt. Damals mußte er also etwa sechsunddreißig Jahre alt gewesen sein. Ben spürte, wie seine Kopfschmerzen schlimmer wurden.»Er ist nicht älter als ich!«flüsterte er.»Er ist im gleichen Alter!«Er wußte selbst nicht genau, warum er von dieser Entdeckung so beeindruckt war. Er stand auf und ging langsam durch sein dunkles Wohnzimmer. Schließlich sank er in den Lehnstuhl und legte seine Füße auf den Diwan. Dann schloß er die Augen, um seine Kopfschmerzen abklingen zu lassen.

Ein junger David Ben Jona anstelle eines alten änderte plötzlich alles. Von Anfang an hatte Ben sich einen weißbärtigen alten Patriarchen vorgestellt, der mit gichtigen Händen über seinen kostbaren Rollen arbeitete. Es erschien einfach passend. Es waren stets die frommen alten Weisen, die mit einem gewissen Fanatismus Dinge niederschrieben.

Doch David Ben Jona war, wie es schien, ein kräftiger, junger Jude gewesen, nicht älter als Ben selbst, der von dem geheimnisvollen Entschluß getrieben worden war, seine Lebensgeschichte zu Papier zu bringen.

Aber warum sagt er dann, daß er bald sterben müsse? fragte sich Ben. Er hatte sich den Juden altersschwach auf seinem Totenbett liegend ausgemalt. Dabei verhielt es sich völlig anders. Wie kann ein Sechsunddreißigjähriger wissen, daß er bald sterben wird? Einem plötzlichen Drang folgend, lief Ben mit großen Schritten zu seinem Schreibtisch zurück und setzte sich wieder vor das Manuskript. Argwöhnisch blickte er auf jedes Wort, auf jeden Buchstaben. Nein, es gab keinen Zweifel. David Ben Jona war zwei Jahre nach dem überlieferten Datum der Kreuzigung Jesu geboren.

Ohne einen Augenblick zu zögern, begann Ben den Rest des ersten Fotos zu übersetzen.

Mein Vater — Dein Großvater, den Du nie kennenlerntest — war Fischer von Beruf. Nachts warf er auf dem See Genezar eth seine Schleppnetze nach Fischschwärmen aus, und tagsüber hängte er seine Netze zum Trocknen auf. Wir waren eine gesegnete Familie — fünf Knaben und vier Mädchen —, und wir alle halfen meinem Vater bei seiner Arbeit.

Hier endete das erste Fragment. Ben prüfte seine Übersetzung nochmals, steckte das Foto in den Umschlag zurück und zog das zweite Teilstück daraus hervor. Er wollte sich eben daranmachen, als das Telefon klingelte.

«Verdammt!«fluchte er leise und knallte seinen Kugelschreiber auf den Tisch.

«Ben, Liebling«, ertönte Angies Stimme,»ich habe darauf gewartet, daß du anrufst.«

«Ich habe heute nachmittag einen weiteren Umschlag von Weatherby erhalten. Eine vollständige Schriftrolle in vier Ausschnitten. Entschuldige, daß ich nicht dazu kam, dich anzurufen. Waren wir etwa verabredet?«

Während sie antwortete, blieben seine Augen an dem ersten Wort des Fotos Nummer zwei haften. Es hieß: Maria.

«Verabredet? Na hör mal, Ben, seit wann brauchen wir eine Verabredung? Paß auf, ich bin eben dabei, einen Braten zu machen.«

«Ich kann nicht, Angie. Nicht heute abend. «Schweigen.

«Es tut mir leid, Liebes, ehrlich. «Und das stimmte. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte Ben daran, die Rollen für eine Weile ruhen zu lassen und sich bei Angie zu entspannen. Ihre Stimme klang wie immer höchst verlockend.»Du fehlst mir, Schatz«, bettelte sie sanft.