Edouard hielt so ruckartig an, daß wir alle nach vorn fielen. Ich sah neugierig zum Fenster hinaus. Die Straße sah aus wie all die anderen, durch die wir gefahren waren: zwei endlose Zeilen Reihenhäuser aus rotem Klinker in winzigen Vorgärten.»Wo sind wir hier?«
«Bei deiner Großmutter«, antwortete Elsie und stieg aus dem Wagen.»Wir hielten es für das Beste«, fügte sie hinzu, während ich mit einiger Mühe aus dem ungewohnt kleinen Auto kroch,»daß du bei ihr wohnst. Sie ist ja jetzt ganz allein, und ein bißchen Gesellschaft wird ihr guttun. William oder ich hätten dich gern bei uns aufgenommen, und für dich wäre es sicher auch komfortabler gewesen, wir haben wenigstens Zentralheizung, aber deine Großmutter wollte nichts davon wissen. Kaum hatte Ruth angerufen und uns gesagt, daß du kommst, da hat Mutter schon das vordere Gästezimmer gerichtet. Es ist ein hübsches Zimmer, du wirst dich bestimmt wohl fühlen.«
Ich richtete mich auf und starrte offenen Mundes das Haus an, ein einstöckiger Kasten aus schmutzigem Klinker mit einem ungepflegten Vorgarten, über dem ein dunkles Erkerfenster hing. Das ganze Haus war finster, wie ausgestorben.
Am liebsten hätte ich auf der Stelle kehrtgemacht und Elsie gebeten, mich mit zu sich und ihrer Zentralheizung zu nehmen. Aber Edouard stapfte schon mit meinem Koffer in der Hand den Gartenweg hinauf und schob den Schlüssel in das Schloß der Haustür. Elsie stieß mich sachte vorwärts.»Komm, Kind. Eine warme Tasse Tee, und dann ins Bett. Das hast du jetzt dringend nötig. Und morgen fühlst du dich wie neugeboren.«
Ich setzte mich in Bewegung, steif vom langen Sitzen in Flugzeug und Auto, erschöpft von Anspannung und Ungewißheit; mein Kopf schmerzte, und ich war hungrig. So betrat ich das Haus meiner Großmutter in der George Street.
Die Ähnlichkeit meiner Großmutter mit meiner Mutter war unglaublich. Als ich ihr in das alte Gesicht sah, war es beinahe, als blickte ich in die Zukunft und sähe meine Mutter, wie sie in sechsundzwanzig Jahren aussehen würde. Wie meine Mutter hatte sie die hochrückige Nase der Dobsons — eine >aristokratische< Nase, sagten manche —, und sie hatte die gleichen ungewöhnlichen grauen Augen, deren Iris schwarz umrandet waren. Ihre Augenbrauen waren schmal und schön geschwungen. Die Wangen unter den hohen Wangenknochen waren eingefallen, das Kinn trat ein wenig spitz hervor. Unter der schlaffen, von tausend Fältchen durchzogenen Haut waren die Linien und Konturen ihres Gesichts auch jetzt noch erkennbar, und je nachdem, wie das Licht auf ihnen spielte, gewannen die Züge etwas von der früheren Schönheit wieder.
Sie faszinierte mich augenblicklich, und lange konnte ich den Blick nicht von ihr wenden. Ihre grauen Augen wurden feucht, und sie sagte mit brüchiger Stimme:»Andrea…«
Auf ihren Stock gestützt, umschlang sie mich mit einem Arm.»Gott sei Dank, daß du gekommen bist«, murmelte sie dicht an meiner Wange, und ich dachte, so werde ich in sechsundfünfzig Jahren aussehen. Mich fröstelte plötzlich, und mir war, als hätte ich einen Schritt in die Zukunft getan.
Aber das Ironische ist, daß ich, wie ich heute weiß, in eben dem Moment, als mir dieser Gedanke durch den Kopf schoß, in die umgekehrte Richtung ging. Nicht in die Zukunft schaute ich, sondern in eine Zeit, die lang vergangen war.
Das Haus meiner Großmutter war klein und eng. Als diese Reihenhäuser gebaut worden waren, waren die Möglichkeiten, sich vor der Kälte des englischen Winters zu schützen, begrenzt. Wärme spendeten nur die offenen Kamine in den einzelnen Zimmern, daher waren die Räume klein, und alle Durchgangsräume, wie Flur oder Treppenhaus, beklemmend eng und niedrig. Mich überraschte das. Ich hatte mir die alten viktorianischen Häuser Englands immer großzügig und elegant vorgestellt. Aber solche Häuser hatten sich nur die Reichen leisten können. Die breite Mittelklasse, die sich mit der Industrialisierung herausgebildet hatte, hatte sich mit diesen kleinen, weit praktischeren Häuschen begnügt, und das Townsend Haus in der George Street war nur eines von Hunderttausenden seiner Art, die damals überall in England gebaut worden waren.
«Gefällt dir mein kleines Häuschen?«fragte meine Großmutter, nachdem Elsie und Ed gegangen waren und wir es uns im Wohnzimmer gemütlich gemacht hatten. Sie hatte einen Teller auf ihrem Schoß und war dabei, eine Scheibe Brot mit Butter zu bestreichen.
Ich sah mich im Zimmer um. Alte, klobige Möbel, schmutzige Wände, von denen die Farbe abblätterte, verblichene Fotografien auf einem Büffet, in schwarzes Leder gebundene Bücher mit Goldschrift auf dem Rücken, schwere Samtvorhänge. Ein kleines, überladenes viktorianisches Wohnzimmer. Vor langem schon schien für meine Großmutter die Zeit einfach stehengeblieben zu sein.
«Es hat sicher eine lange und interessante Geschichte«, sagte ich.
«O ja, das kann man sagen. Dein Onkel William will mich dauernd überreden, hier auszuziehen und eine Sozialwohnung zu nehmen. Aber ich möchte nicht auf Staatskosten leben. So wie die meisten anderen. Ich hab mein Häuschen, und ich möchte es behalten. Und eine Zentralheizung brauch ich auch nicht. Wir sind zweiundsechzig Jahre lang mit unseren Kaminen ausgekommen, warum soll das jetzt auf einmal nicht mehr möglich sein?«
«Das Haus ist zweiundsechzig Jahre alt?«Trotz der Wärme der Gasheizung, die in den Kamin eingebaut worden war, spürte ich die Kälte in meinem Rücken.
«Aber nein! So lang habe ich hier gelebt. Als ich deinen Großvater heiratete, brachte er mich hierher.«
«Und wie alt ist das Haus?«
«Es wurde 1880 gebaut. Es ist also über hundert Jahre alt.«
«Ist es irgendwann einmal modernisiert worden?«
«Natürlich, das mußte sein. Wir haben elektrisches Licht, wie du siehst. «Sie tauchte das Messer in das Glas mit Zitronenmarmelade, das neben ihr auf einem kleinen Tisch stand, strich die Marmelade dick auf das Brot und biß kräftig ab. Während sie sich die Hände an ihrer Wolljacke abwischte, sagte sie:»Und oben haben wir eine Toilette. Irgendwann waren wir hier in der Straße die einzigen, die noch ein Plumpsklo hatten. Da haben wir dann Rohre legen lassen. Aber die Toilette ist ziemlich altersschwach, man muß sie zartfühlend behandeln. Eine Badewanne ist auch da.«
Fröstelnd vor Kälte, obwohl mir Gesicht und Schienbeine von der Hitze der Gasheizung fast brannten, stellte ich mir das archaische Badezimmer meiner Großmutter vor und vermißte schon jetzt meine komfortable kleine Wohnung in Los Angeles. Während ich noch über meine neue, mir so fremde Umgebung nachdachte und höflich den viel zu süßen Tee hinunterwürgte, geschahen plötzlich mehrere seltsame Dinge. Ein Luftzug fuhr ins Zimmer, so kalt, daß ich zitterte. Meine Großmutter, die ihn nicht zu bemerken schien, drehte sich nach dem alten Kofferradio um, das neben ihr auf dem Tisch stand, und schaltete es ein. Ich glaubte sie sagen zu hören:»Jetzt kommt gleich mein Lieblingsprogramm. «Aber ich verstand ihre Worte nicht richtig, weil sie mir den Rücken zugewandt hatte, und das, was sie sagte, wie Gebabbel klang.
Aus dem kleinen Radio scholl das durchdringende Wimmern schottischer Dudelsäcke, und im selben Moment bekam ich einen so heftigen Schüttelfrost, daß ich beinahe meinen Tee vergossen und meinen Teller fallengelassen hätte.
Großmutter drehte sich erschrocken um. Ich zitterte am ganzen Körper.
«Dir muß ja eiskalt sein!«Mühsam stand sie aus ihrem Sessel auf.»Das ist diese fürchterliche Kälte hier. Und du hast nur die dünnen Sachen an.«
Ich wollte etwas sagen, aber meine Zähne schlugen so unkontrollierbar aufeinander, daß ich kein Wort herausbrachte. Stumm sah ich zu, wie Großmutter mir Teller und Teetasse abnahm, beides auf den Tisch stellte und zum Sofa ging, um eine gefaltete Wolldecke zu holen. Sie breitete sie um mich aus und hüllte mich fest darin ein, wobei sie in beruhigendem Ton sagte:»Wenn ich mittags ein Schläfchen mache, nehme ich oft die Decke. Sie ist aus Shetlandwolle. Da wird dir gleich wieder warm werden.«
«L-lieber G-gott«, stieß ich zähneklappernd hervor.»Ich v-versteh g-gar nicht — «Und dann begann ich noch heftiger zu zittern.
Es war nicht die äußere Kälte. Ich spürte genau, woher es kam, und hätte Großmutter sagen können, daß ihre schöne Decke nichts helfen würde. Es kam von innen heraus, ein eisiger Hauch, der irgendwo in den Tiefen meines Körpers entsprang und jede seiner Zellen durchströmte. Mein Gesicht wurde heiß, meine Haut warm und trocken, aber immer noch schüttelte mich diese alles durchdringende Kälte.
Dann hörte ich ganz schwach, wie aus weiter Ferne, die Klänge eines Klaviers. Geisterhaft zart hob sich die Melodie, die mir vertraut war und der ich dennoch keinen Namen geben konnte, vom plärrenden Gewimmer der Dudelsäcke ab. Ich starrte erst das Radio an und dann Großmutter, doch die schien nichts wahrzunehmen. Ich drehte den Kopf hierhin und dorthin, um festzustellen, woher die sanft perlenden Töne kamen, aber es gelang mir nicht. Sie schienen aus allen Richtungen zugleich zu kommen.
Dann wußte ich plötzlich, was für eine Melodie das war, >Für Elise< von Beethoven. Sie schien von ungeschickter, ungeübter Hand gespielt zu werden, und gewisse Passagen wurden immer wieder gespielt, wie zur Übung, während der oder die Spieler/in an schwierigen Stellen stockte und stolperte. Es klang fast so, als spielte ein Kind.»Großmutter«, sagte ich.
Sie strich Marmelade auf ihr Brot und summte dabei das Lied der Dudelsackpfeifer mit.
Plötzlich fiel mir noch etwas auf. Die Uhr über dem Kaminsims tickte nicht mehr. Ich sah zu ihr hinauf. Sie schien stehengeblieben zu sein.
Das Zimmer war vom Wimmern der Dudelsäcke erfüllt, durch das wie traumhaft die Melodie von >Für Elise< hindurchklang.»Großmutter«, sagte ich lauter.»Deine Uhr ist stehengeblieben.«
Sie sah auf.»Was?«
«Die Uhr. Sie tickt nicht mehr. Hör doch.«
Wir starrten beide auf die Uhr über dem Kamin. Sie tickte wieder.
Meine Zähne schlugen jetzt wieder heftiger aufeinander, und so sehr ich mich bemühte, etwas zu sagen, ich konnte nicht. Doch plötzlich, im nächsten Moment schon, so unerwartet, wie es begonnen hatte, hörte das Zittern und Zähneklappern auf. Mein ganzer Körper war wieder ruhig.
«Nein, nein«, sagte Großmutter.»Die Uhr ist nicht stehengeblieben. Du hast nur das Ticken bei der Musik nicht gehört.«
«Und wegen des Klavierspiels wahrscheinlich. «Ich zog die Decke fester um mich.»Wegen des Klavierspiels?«
Ich sah meine Großmutter an. Es war so alt, dieses Gesicht, und doch war die frühere Schönheit immer noch deutlich erkennbar.»Ja, es spielt jemand«, sagte ich laut.»Horch!«
Wir horchten beide. Dann schaltete Großmutter das Radio aus. Nichts als das feine Ticken der Uhr war zu hören.»Da spielt niemand Klavier.«
«Aber ich hab's doch gehört.«
«Woher kam das Geräusch?«
Ich zuckte die Achseln.»Ich weiß nicht genau.«
«Vielleicht war es Mrs. Clarks Fernseher. Sie sitzt praktisch Wand an Wand mit uns. Abends kann ich sie manchmal hören.«
«Nein, das war kein Fernseher. Es klang, als spielte jemand im nächsten Zimmer. Hat Mrs. Clark ein Klavier?«
«Keine Ahnung. Aber sie ist genauso alt und arthritisch wie ich.«
«Wer wohnt in dem Haus auf der anderen Seite, Großmutter?«
«Das steht leer. Seit Monaten schon. Heutzutage will kein Mensch kaufen. Jeder schaut nur, daß er eine Sozialwohnung kriegt, die nichts kostet. Ich sag dir, das Sozialsystem in England ist eine Schande. Da lassen sie diese ganzen Pakistanis rein — «
«Ich war überzeugt, ich hätte etwas gehört…«, sagte ich ratlos.
«Du bist einfach müde, Kind. «Großmutter beugte sich zu mir herüber und tätschelte mir beschwichtigend das Knie.»Dir fehlt nur der Schlaf. Ich bin froh, daß du gekommen bist, Andrea. Dein Großvater wird sich freuen.«
«Was fehlt ihm eigentlich?«
«Er ist alt, Andrea. Er hat ein erfülltes und manchmal schweres Leben hinter sich. Aber es waren gute Jahre. Wir haben viel gemeinsam durchgestanden, dein Großvater und ich. «Als sie mich ansah, waren ihre Augen feucht, und ihre Lippen bebten.»Ich habe mit diesem Mann ein gutes Leben gehabt, und dafür werde ich immer dankbar sein. Es gibt nicht viele Frauen, denen es so gut ergangen ist wie mir. Nein, weiß Gott nicht. Und dabei hatte er im Krieg soviel durchgemacht…«Sie schüttelte bekümmert den Kopf.
«Er war auch im Krieg?«Das war ein Teil der Familiengeschichte, mit dem ich vertraut war. Mein Vater hatte oft vom Krieg erzählt, als er bei der Luftwaffe gewesen war und in der Luftschlacht um England mitgekämpft hatte.
Sie sah mich eine Weile schweigend, mit umflorten Augen an, dann blitzte Erheiterung in diesen Augen auf.»Ja, aber nicht im Zweiten Weltkrieg, Kind. Ich habe vom Ersten Weltkrieg gesprochen. Er war beim Pioniercorps, dein Großvater. Er hat in Mesopotamien gedient.«
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