»Igitt!« Amy, die Zwölfjährige, schnitt ein Gesicht. »Ich hasse Hühnchen total!«
»Halt den Mund und iß!« sagte Ted. »Davon wirst du groß und stark.«
Amy baumelte so heftig mit den Beinen, daß ihr ganzer Körper wippte. »Stellt euch mal vor! Schwester Agatha ist Vegetarierin. Sie kauft ihr ganzes Essen in einem Naturkostladen.«
Ted lächelte. »Da braucht sie sich wenigstens nie Gedanken zu machen, was sie freitags kochen soll. Komm, iß jetzt.«
Amy stocherte auf ihrem Teller herum, piekte ein Stück Chili auf und schob es in den Mund. »He, Mary«, sagte sie, »kennst du schon den neuesten Aufziehpuppen-Witz?«
Mary seufzte. »Nein, was für einen?«
»Es gibt eine neue Präsident-Kennedy-Puppe. Wenn man die aufzieht, rennt der Bruder fünfzig Meilen.« Amy warf den Kopf zurück und lachte. Doch von ihrem Vater erntete sie nur ein mißbilligendes Lächeln und von ihrer Mutter einen tadelnden Blick. Mary, die mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt war, reagierte überhaupt nicht.
»Oder den von der neuen Helen-Keller-Puppe?« fuhr Amy unerschüttert fort.
»Jetzt reicht es«, fuhr Lucille ihr in die Parade. »Ich weiß nicht, woher du deine Witze hast, aber ich finde sie reichlich geschmacklos.«
»Ach, Mama, in der Schule erzählen alle solche Witze.« Kopfschüttelnd murmelte Lucille etwas von öffentlichen Schulen und griff nach dem Souffle.
»Man zieht sie auf, und sie rennt gegen die Wand.«
»Jetzt reicht's aber wirklich!« Lucille schlug mit der Hand auf den Tisch. »Erst der Präsident und dann eine bedauernswerte Blinde. Das ist -«
»Lucille«, sagte Ted ruhig. »Zwölfjährige haben einfach einen anderen Humor. Das hat mit der Schule nichts zu tun.«
»He, Mary!« Amy warf ihre Gabel auf den Teller. »Wieso bist du eigentlich so still? Mike hat dich wohl heute nicht angerufen, hm?«
Mary richtete sich auf und sah ihre Schwester an. »Das hab ich gar nicht erwartet. Er hat mir erzählt, daß sie heute Besuch von Verwandten haben. Außerdem muß ich noch eine Arbeit fertig machen.«
Ted tupfte mit einem Stück Brot die Soße auf seinem Teller auf. »Ist das die, die du auf französisch schreiben mußt? Brauchst du Hilfe?«
»Nein, danke, Dad.«
»Ich nehme Spanisch«, verkündete Amy. »Schwester Agatha hat gesagt, man sollte eine Sprache lernen, die man gebrauchen kann. In Los Angeles sollte jeder spanisch sprechen.«
»Ich weiß«, sagte Mary. »Ich hab mir überlegt, ob ich nicht Suaheli lernen soll.«
»Wozu denn das?« Lucille zog die schmalen, gezupften Augenbrauen hoch.
»Ich gehe vielleicht zum Peace Corps.«
»Das ist ja was ganz Neues. Und was ist aus deinen Collegeplänen geworden?«
»Ich kann ja hinterher aufs College gehen. Beim Peace Corps sind es nur zwei Jahre. Ich würde gern nach Tanganjika gehen oder so was.«
Lucille strich sich automatisch eine dünne Haarsträhne aus dem Gesicht. Mary hatte jeden Monat neue Zukunftspläne und pflegte mit einer Begeisterung und einem Ernst darüber zu sprechen, die jeden Fremden von ihrer Zielstrebigkeit überzeugt hätte. Ihre Familie wußte es anders.
»Mach erst mal die Highschool fertig. Du hast noch ein ganzes Jahr vor dir.«
»Ein Jahr und acht Wochen.«
Lucille verdrehte die Augen zur Decke. »Eine Ewigkeit.«
Mary wandte sich ihrem Vater zu. »Du kannst das doch bestimmt verstehen, Dad, oder?«
Er schob seinen Teller weg und lächelte. »Ich dachte, du wolltest Modezeichnerin werden.«
»Und vorher Tänzerin«, warf Amy ein.
Mary zuckte nur die Achseln. »Das ist jetzt was ganz anderes.«
Während ihre beiden Töchter das Geschirr spülten, trat Lucille durch die Schiebetür von der Küche auf die Terrasse hinaus und blickte in die Dunkelheit, die den Garten mit Rasenflächen und alten Bäumen so dicht verhüllte, daß er grenzenlos schien. Im Lichtschein, der aus dem Eßzimmer fiel, war nur der vordere Teil des Schwimmbeckens zu sehen, weiß und ohne Wasser. Jenseits des Gartens, etwas oberhalb, auf einem grünbewachsenen Hügel, schimmerten die Lichter der nächsten Häuserzeile, und aus der Ferne war Gelächter zu hören.
Lucille drehte sich um und ging wieder ins Haus. »Hoffentlich kommt morgen endlich der Mann wegen des Schwimmbeckens«, sagte sie. »Es sieht so scheußlich aus, wenn es leer ist.«
»Zum Schwimmen ist es doch sowieso zu kalt, Mutter.«
»Das hat dich und Mike aber neulich abend nicht abgeschreckt. Und dabei hättest du dir beinahe noch den Tod geholt.«
»Das war doch nicht meine Schuld«, entgegnete Mary. »Ich konnte schließlich nichts für den Kurzschluß an der Beckenbeleuchtung.«
»Nein, natürlich nicht, aber ich habe einen wahnsinnigen Schrecken bekommen, als ich dich schreien hörte und sah, wie Mike dich aus dem Wasser zog.«
»Mir ist doch nichts passiert, Mutter. Es hat mich nur erschreckt.«
»Trotzdem.« Lucille packte die Reste des Hühnchens in Frischhaltefolie und legte es in den Kühlschrank. »Es war furchtbar. Ich habe einmal gelesen, daß in einem Hotelschwimmbecken eine Frau ums Leben kam, als es einen Kurzschluß gab. Das hätte wirklich schlimm ausgehen können, Mary Ann.«
Mary hängte das feuchte Geschirrtuch auf und erklärte, sie ginge gleich in ihr Zimmer.
»Schaust du dir nicht die Ed Sullivan Show mit uns an? Heute abend ist Judy Garland als Gast da.«
»Ich kann nicht, Mutter. Ich muß meine Arbeit diese Woche abgeben, und ich habe sie noch nicht getippt.«
Als sie hinausgehen wollte, legte Lucille ihr die Hand auf den Arm und hielt sie fest. »Geht es dir wirklich gut, Kind?« fragte sie leise.
Mary lächelte flüchtig und drückte ihrer Mutter die Hand. »Aber ja. Ich hab nur so viel im Kopf. Du weißt doch, wie das ist.«
Auf dem Weg zu ihrem Zimmer machte Mary kurz halt, um einen Blick ins Wohnzimmer zu werfen, wo ihr Vater sich mit einem Glas Bourbon in der Hand auf dem Sofa niedergelassen hatte und am Fernseher herumschaltete.
Ted McFarland war ein gutaussehender Mann, mit seinen fünfundvierzig Jahren immer noch so schlank und elastisch wie in seiner Jugend. Morgens vor der Arbeit ging er regelmäßig schwimmen, und einmal in der Woche trainierte er in einem Fitneßklub. Das kurze, leicht wellige Haar war dunkelbraun und an den Schläfen schon leicht ergraut. Er hatte ein weiches Gesicht mit kleinen Lachfältchen um die Augen, die verrieten, daß er nicht zum Trübsinn neigte.
Mary liebte ihren Vater abgöttisch. Einen ernsthaften Krach hatte es nie zwischen ihnen gegeben, und er war immer da, wenn sie ihn brauchte. Auch neulich abend, nach dem Schrecken im Schwimmbecken, als sie den elektrischen Schlag bekommen hatte, war er es gewesen, der sie in die Arme genommen und getröstet hatte.
»Ich geh jetzt in mein Zimmer, Dad«, sagte sie.
Er sah auf und schaltete automatisch den Ton des Fernsehapparats ab. »Kein Fernsehen heute abend? Ist die Arbeit so wichtig?«
»Ich muß sie tippen, wenn ich ein A, die Höchstnote, kriegen will.«
Er streckte lächelnd den Arm nach ihr aus. Sie ging zu ihm und setzte sich auf die Sofalehne neben ihn.
»Außerdem«, fuhr sie fort, während er den Arm um sie legte, »brauche ich gute Noten, wenn ich in der Begabtenklasse bleiben will.« Sie starrte auf den lautlos berichtenden Nachrichtensprecher auf dem Bildschirm und fand, er hätte einen Stich ins Grüne. »Die Farbe stimmt nicht, Dad.«
»Ich weiß. Irgendwann demnächst werden sie's schon besser hinkriegen. Bis dahin müssen wir mit dem zufrieden sein, was sie uns bieten.«
»Und was gibt's Neues in der Welt?«
»Nicht viel. Die Schwarzen im Süden demonstrieren immer noch. Jackie ist immer noch guter Hoffnung. An der Börse ist immer noch Baisse. Alles unverändert. Moment mal, nein! Ich hab was vergessen. Sybil Burton hat Richard heute endlich verlassen.«
Mary lachte. »Ach, Dad.« Sie schlang ihm die Arme um den Hals und gab ihm einen Kuß. Als sie aus dem Zimmer ging, hörte sie die plötzlich wiedereinsetzende Stimme des Nachrichtensprechers. »... gab heute bekannt, daß der Theologe Hans Küng sich dafür ausgesprochen hat, den Index verbotener Bücher abzuschaffen .«
Sie saß an ihrem Schreibtisch und starrte mit leerem Blick auf das Foto Richard Chamberlains, das an ihrer Pinnwand den beherrschenden Platz einnahm. Vor ihr lagen die Bilder ausgebreitet, die sie zur Illustration ihrer Facharbeit über die Kathedralen Frankreichs ausgeschnitten hatte. Aber sie hatte die Schreibmaschine bis jetzt nicht angerührt. Die Musik der Platte, die sie aufgelegt hatte, schwermütig gesungene Lieder von Joan Baez, drang nicht zu ihr durch. Sie war mit ihren Gedanken wieder bei dem Traum der vergangenen Nacht.
Halb wünschte sie, die aufwühlende Erinnerung abschütteln zu können, halb genoß sie sie auch mit einer heimlichen Wonne. Sie verstand nur nicht, warum ihr Unterbewußtsein nicht Mike, sondern ausgerechnet den heiligen Sebastian für die Rolle des Liebhabers auserkoren hatte.
Merkwürdig, fand sie jetzt, wo sie darüber nachdachte, daß sie in den sieben Monaten, seit Mike ihr Freund war, nicht ein einziges Mal von ihm geträumt hatte. Obwohl sie sehr viel über ihn phantasiert hatte. Bis zum Geschlechtsakt selbst allerdings waren diese Tagträume nie gegangen. Mary Ann McFarland erlaubte sich keine sündhaften Gedanken.
Seufzend stand sie auf und ging rastlos in ihrem Zimmer umher. Filmstars, Popsänger und ein nachdenklicher Präsident Kennedy blickten von den Wänden zu ihr hinunter. Auf der Kommode lagen neben ihrem Schul-Sweatshirt und mehreren Dosen Haarspray Fotos von Mike Holland im FootballDreß.
Mary streckte sich auf ihrem Bett aus. Die erotischen Erinnerungen an den heiligen Sebastian ließen sie nicht los; die Erinnerung nicht nur an den Traum, sondern vor allem daran, wie er geendet hatte. Zweifellos war der Traum Sünde gewesen; und zweifellos war es daher unrecht zu hoffen, daß er wiederkehren würde. Sie mußte ihn vergessen, ihn sich mit Gewalt aus dem Kopf schlagen. Den Blick auf die kleine blau-gewandete Figur der heiligen Jungfrau gerichtet, die mit sanfter Duldermiene auf ihrem Toilettentisch stand, begann Mary widerstrebend zu beten. »Heilige Maria, Mutter Gottes voller Gnaden .«
2
Mike Holland lebte mit seinem Vater und seinen beiden Brüdern in einem großen Bungalow nicht weit vom Haus der McFarlands entfernt. Nathan Holland hatte seit dem Tod seiner Frau vor fast zehn Jahren seine drei Söhne allein großgezogen. Dank jahrelanger Übung schaffte er es mühelos und ohne Panne, wie gewohnt das Frühstück für die ganze Familie auf den Tisch zu bringen, ehe er ins Büro fuhr. Das Geschirr würde er heute stehenlassen, da freitags immer die Zugehfrau kam.
»Mike? Bist du das?« rief er, als er im Wohnzimmer Schritte und ein verschlafenes Gähnen hörte.
»Ja, Dad.«
»Komm, beeil dich ein bißchen. Deine Brüder lassen dir sonst nichts übrig.«
Mike ging ins Eßzimmer und setzte sich an seinen angestammten Platz. Timothy, vierzehn, und Matthew, sechzehn, sahen nur kurz von ihren mit Schinken und Ei beladenen Tellern auf.
Nathan kam aus der Küche und stellte seinem ältesten Sohn einen Teller hin. »Ich hab dich gestern abend gehört, Mike. Du
bist spät gekommen.«
»Wir haben ein bißchen länger gemacht.«
»Von wegen«, warf Timothy grinsend ein. »Du hast Mary auf Umwegen heimgefahren, gib's doch zu!«
»Halt die Klappe, Tim.« Mißmutig begann er zu essen.
Er hatte in der vergangenen Nacht schlecht geschlafen. Mary hatte sich mit nächtlichen Verführungskünsten in seine Träume gestohlen. Aber die Träume hatten genauso geendet wie ihre realen Rendezvous immer endeten - unbefriedigend und mit Frust. Kein Wunder, daß Mike mißmutig aufgewacht war.
»Sherry hat gestern abend angerufen und nach dir gefragt«, bemerkte Matthew, der, wenn auch nur ein Jahr jünger, um einiges kleiner und schmächtiger war als Mike.
»Sherry ist Ricks Freundin«, sagte Mike.
»Außerdem«, mischte sich Tim vorlaut ein, »gehört sich's nicht, daß Mädchen Jungs anrufen.«
»Ich wollte es dir nur ausrichten, Mike.«
»Okay. Danke, Matt.«
Die drei Jungen aßen schweigend. Timothy und Matthew hatten auf geschlagene Bücher vor sich liegen. Der Vierzehnjährige besuchte noch die katholische Schule der Gemeinde St. Sebastian und hatte doppelt so viele Hausaufgaben zu machen wie seine beiden Brüder, die an der Reseda Highschool waren. Aber im nächsten Jahr würde er zum Glück auch endlich auf die Highschool kommen.
Nathan kam wieder aus der Küche und rollte seine Hemdärmel herunter. »Wieso bist du heute so still, Mike? Ist was nicht in Ordnung?«
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