»Ach, mir sitzen nur die Abschlußprüfungen in den Gliedern, Dad. Ich bin froh, wenn sie vorbei sind.«

Sein Vater gab ihm einen kurzen Klaps der Ermunterung, und er schluckte seinen Kummer hinunter; den Kummer darüber, daß sämtliche Jungen auf der Schule ihn um etwas beneideten, was er gar nicht hatte. Wer würde aber auch die Wahrheit glauben? Daß nun schon seit neun Monaten das hübscheste Mädchen der ganzen Schule seine Freundin war und er noch immer nichts erreicht hatte.

Mike stocherte in seinem kalten Rührei herum. Im Grund, dachte er verdrießlich, ist Rick der Glückspilz. Wenigstens läßt die dicke Sherry ihn ran.

»Mary Ann! Mary Ann! Steh jetzt sofort auf!«

Sie öffnete langsam die Augen und schaute unter schweren Lidern zum Fenster hinüber, durch das das flirrende Licht der Junisonne in ihr Zimmer strömte. Wieder so ein Morgen, dachte sie gereizt. Das ist jetzt schon der dritte. Wieso wache ich dauernd mit Übelkeit auf?

Die Tür öffnete sich, und Lucille McFarland steckte den Kopf ins Zimmer. »Noch einmal ruf ich dich nicht, Mary Ann. Wenn ich dich im Auto mitnehmen soll, mußt du endlich aufstehen.«

Mit einem tiefen Seufzer richtete Mary sich auf und rieb sich schlaftrunken die Augen. Sie spürte nicht einen Funken von dem Schwung und der Energie, die sie sonst morgens aus dem Bett trieben. Am liebsten hätte sie sich sofort wieder hingelegt. Vielleicht kam es daher, daß in zwei Wochen die Ferien anfingen. Vielleicht war es die asiatische Grippe. Noch einmal seufzte Mary zornig und gereizt, dann schwang sie die Beine aus dem Bett. Bis morgen mußte sie das jedenfalls überwunden haben. Morgen war Cheerleader-Probe für das kommende Schuljahr, und sie wollte unbedingt wieder mit im Team sein.

Warm und verlockend schien die Frühsommersonne durch die offenen Fenster des Klassenzimmers und weckte Phantasien von goldenen Tagen an weißen Stränden. Adam Slocum, der die Unruhe seiner Schüler sah, schluckte seinen Ärger hinunter. Er wußte genau, wie ihnen zumute war; er war noch nicht zu alt, um sich an den Lockruf des Sommers zu erinnern, an die Sehnsucht nach Freiheit und Ungebundenheit. Ihre Konzentration nahm ständig ab. Jedes Jahr war es das gleiche, man konnte von Februar bis Juni förmlich zusehen, wie das Interesse nachließ und ihre Aufmerksamkeit sich anderen Dingen zuwandte. Sie waren jung, voller Energie und Lebensfreude, und je näher der Sommer kam, desto schwerer fiel es ihnen, den Tag zu erwarten, an dem sie endlich hinausstürmen konnten in heiße Tage voller Lust und Spiel.

»Meine Damen und Herren«, rief er zum fünftenmal und klopfte mit seinem Zeigestab aufs Pult. »Bitte!«

Sie nahmen sich zusammen, wandten ihm konzentrierte junge Gesichter zu.

Adam Slocum räusperte sich und fuhr in seinem Vortrag fort. Einige Minuten lang zollten sie ihm schweigend Aufmerksamkeit, und er spürte, daß sie seinen Ausführungen folgten. Aber kaum hatte er sich umgedreht, um die Herzkammern an die Tafel zu zeichnen, hatte er ihre Aufmerksamkeit schon wieder verloren.

Aus dem Augenwinkel sah Mary das verstohlene Signal. Germaine Massey, ihre beste Freundin, die einige Bänke entfernt saß, winkte ihr zu. Mary drehte sich ein wenig und sah, wie Germaine vorsichtig den Deckel ihres Ringbuchs hob. Darunter kam der Rücken eines dicken, abgegriffenen Taschenbuchs zum Vorschein. Mary neigte den Kopf und las den Titel. Fanny Hill. Zwei Exemplare des verbotenen Romans waren an der Reseda Highschool in Umlauf. Germaine und Mary standen seit Wochen auf der Warteliste.

»Miss McFarland!«

Sie fuhr herum. »Ja, Sir.«

»Können Sie mir die Arterien nennen, die den Herzmuskel versorgen?«

Sie lächelte mit blitzenden Zähnen. »Ja, Sir.«

Adam Slocum wartete einen Moment, dann seufzte er und sagte müde: »Würden Sie dann freundlicherweise Ihr Wissen mit uns teilen?«

Die Klasse lachte. »Die Herzarterien, Sir.«

Adam Slocum unterdrückte ein Lächeln und schüttelte resigniert den Kopf. Er konnte Mary Ann McFarland einfach nicht böse sein.

Ein leichter Windstoß fegte durch die offenen Fenster in den Biologiesaal. Das Skelett in der Ecke klapperte leise, und ein scharfer Hauch von Formaldehyd wehte durch den Raum. Den Blick auf die jungen Gesichter seiner Schüler gerichtet, fuhr Adam Slocum in seinem Vortrag fort und dachte dabei, was für ein Vergnügen es war, eine Begabtenklasse zu unterrichten. Er bedauerte es, daß das Schuljahr nun bald zu Ende gehen würde.

Von seinem Standort aus konnte Adam Slocum unter Marys Bank sehen; ihr enger Rock war hochgerutscht und enthüllte gebräunte, straffe Schenkel. Die Reseda Highschool hatte strenge Kleidervorschriften; Mädchen, bei denen der Verdacht bestand, daß sie ihre Röcke zu kurz trugen, mußten im Büro der Direktorin niederknien, und wenn der Saum nicht den Boden berührte, wurden sie umgehend nach Hause geschickt. Das war aber auch gut so, sonst würden die koketten jungen Dinger zweifellos ihre Reize völlig ungeniert zur Schau stellen,

und wer würde dann noch ans Lernen denken?

Adam Slocum sah weg und konzentrierte sich auf die dicke Sherry, die Mike Holland schöne Augen machte.

Als Adam Slocum sich wieder der Zeichnung an der Tafel zuwandte, sah Mary zu Germaine hinüber und krauste die Nase. Dann warf sie Mike einen Blick zu und lächelte. Es kostete ihn Mühe, das Lächeln zu erwidern. Er brachte kaum die Mundwinkel hoch. Seine Gedanken kreisten schon wieder - oder immer noch - um den vergangenen Abend. Er versuchte, sich jedes Wort, jede Geste ins Gedächtnis zu rufen, um herauszubekommen, was er falsch gemacht hatte.

Er und Mary waren wie jeden Donnerstag in die Jugendgruppe der Katholischen Gemeinde gegangen und hatten Pater Crispin bei den Vorbereitungen zu einem Sommerfest geholfen. Da war alles wie immer gewesen. Es war die Stunde darauf, die Mike jetzt noch einmal vor sich ablaufen ließ, während er den Blick auf Adam Slocums Kreideherz gerichtet hielt, ohne etwas zu sehen. Er steuerte in Gedanken seinen Corvair wieder in die Hügel von Tarzana hinauf.

»Du bist an unserer Straße vorbeigefahren, Mike«, hatte Mary gesagt.

Er grinste. »Ich weiß.« Er gab ein wenig mehr Gas und zog den Wagen mit quietschenden Reifen um die Kurve.

»Ach, komm, Mike, du weißt, daß meine Mutter schimpft, wenn ich nicht pünktlich nach Hause komme.«

»Sag doch einfach, es hätte länger gedauert.«

»Mike -«

Als der Wagen die Höhe des Hügels erreichte und Tarzana hinter ihnen zurückblieb, hörte Mary auf zu protestieren. Sie hatten selten Gelegenheit, ganz allein miteinander zu sein, und Mike wußte, daß sie solche Momente genauso herbeisehnte

wie er. Man mußte ihr nur ein bißchen gut zureden ...

Er lenkte den Wagen von der Straße in eine Parkbucht. Dieser Teil des Mulholland Drive war dunkel, und dichtbelaubte Bäume schützten die Parkbucht vor dem Scheinwerferlicht entgegenkommender Autos. Vor ihnen lag lichtflimmernd das San Fernando Tal.

»Mary«, sagte er ruhig, nachdem er den Motor ausgeschaltet hatte. »Wir müssen miteinander reden.«

»Ich mag nicht, Mike. Jetzt nicht.«

»Doch, wir müssen. Wir können es doch nicht einfach ignorieren. Wenn mein Vater wirklich mit uns nach Boston zurück will, sehen wir uns eine Ewigkeit nicht. Du mußt mir versprechen, daß du mir treu bleibst.«

Mary schaute zum Fenster hinaus auf das Lichtermeer. »Ich mag nicht darüber reden, Mike. Es macht mich so traurig. Am liebsten möchte ich überhaupt nicht daran denken. Wenn ich mir vorstelle, daß du den ganzen Sommer weg bist! Ich komme mir bestimmt ganz verlassen vor.«

»Genau darüber müssen wir reden. Und deshalb mußt du mir versprechen, daß du mir treu bleibst.« Er legte seine Hand auf ihre Schulter und spielte mit ihrem Haar. »Mary«, sagte er leise, »du mußt mir versprechen, daß du dir keinen anderen suchst.«

»Ach, Mike.« Sie drehte sich um und sah ihn an. »Wie kannst du so was überhaupt denken?«

»Versprich es mir, Mary.«

»Okay, Mike. Ich versprech es dir. Ich schau nicht mal einen anderen an.«

»Versprich es richtig, Mary.«

»Ich mein's ernst, Mike. Ich schwöre bei der heiligen Theresa, daß ich dir treu sein werde.«

Er entspannte sich etwas. »Wenn wir fahren, und mein Vater ist ziemlich sicher, daß wir fahren, dann gleich am zweiten Ferientag. Bis dahin sind es nur noch zwei Wochen.«

Mary starrte wieder zur Windschutzscheibe hinaus. »Ich weiß.«

»Zwei Wochen, Mary. Und dann drei Monate, ehe wir uns wiedersehen.«

Sie nickte, ohne etwas zu sagen.

»Mary ...« Er rückte näher an sie heran und legte ihr den Arm um die Schultern. Als seine Hand zu ihrer Brust glitt, schob sie sie weg. »Nein, Mike. Nicht.«

»Warum nicht?« flüsterte er, die Stirn in ihr Haar gedrückt. »Du magst es doch. Du läßt es mich sonst immer tun. Außerdem sind wir jetzt lange genug befreundet. Ein ganzes Jahr. Komm schon, Mary, alle tun es.«

Sie schüttelte schwach den Kopf. »Nicht alle, Mike. Ich möchte das nicht tun, was du willst. Wir haben oft genug darüber gesprochen. Es ist nicht recht, solange wir nicht verheiratet sind.«

Einen Moment richtete er sich starr auf, dann schmiegte er sich wieder an. »Davon rede ich doch gar nicht, Mary.« Seine Stimme war weich und beredsam, und seine Lippen streiften ihr Ohr, während er sprach. »Ich hab gemeint - du weißt schon, nur das Übliche.«

Er schob ihr die Hand unter das Kinn und drehte ihren Kopf, so daß ihr Gesicht ihm zugewandt war. Ganz leicht zuerst, dann leidenschaftlicher küßte er sie. Aber als er seine Zunge zwischen ihre Lippen schieben wollte, wich sie zurück.

»Nein, Mike - nicht!«

»Okay«, hauchte er. Behutsam schob er seine Hand unter ihre Bluse. Mary schloß die Augen und atmete schneller. Aber als er seine Finger unter ihren Büstenhalter schieben wollte, stieß sie seine Hand wieder weg.

»Nicht jetzt, Mike. Bitte!«

»Warum denn nicht? Du magst es doch sonst immer.«

»Sie tun weh, Mike. Bitte!« Sie sah ihn flehend an. »Nicht jetzt.«

Mike war verstört, einen Moment lang beinahe ärgerlich, dann wurde er wieder weich. »Mary«, flüsterte er und zog sie an sich, »ich mag dich so sehr. Das weißt du doch. Und in zwei Wochen bin ich weg. Vielleicht entschließt sich mein Vater sogar, in Boston zu bleiben, und dann komme ich nie wieder zurück.«

Sie fuhr herum. »Mike!«

Er drückte heftig seinen Mund auf den ihren und stieß ihr die Zunge zwischen die halb geöffneten Lippen. Im ersten Moment erwiderte sie seinen Kuß, stöhnte leise, dann riß sie mit einem Ruck den Kopf nach rückwärts.

»Ich möchte es mit dir tun«, sagte er heiser. »Hier. Jetzt gleich.«

»Nein, Mike -«

»Es ist schön. Wirklich. Du findest es bestimmt schön. Und ich tu dir nicht weh. Wir tun es so, wie du möchtest.«

»Nein!«

»Du brauchst dich nicht mal auszuziehen.«

Als sie plötzlich die Hände vor ihr Gesicht schlug und zu weinen anfing, seufzte Mike ungeduldig und zog seinen Arm von ihren Schultern. Sie weinte ein paar Minuten lang, dann wurde sie wieder ruhiger.

»Hey, Mary, sei nicht böse«, sagte Mike. »Es tut mir leid.«

Sie schluckte und wischte sich mit den Fingern die Augen. »Ich will es ja auch, aber wir dürfen nicht. Erst wenn wir

verheiratet sind.«

Er sah sie einen Moment lang stumm an, dann sagte er bedrückt: »Vielleicht sehen wir uns nie wieder. Ich liebe dich, Mary. Liebst du mich auch?«

Sie sagte »ja« und begann wieder zu weinen.

Da hatte Mike den Wagen angelassen, und sie waren in eisigem Schweigen zu ihrem Haus gefahren.

»Mr. Holland! Bitte!« Krachend knallte der Zeigestab auf das Lehrerpult.

Mike sah erschrocken auf.

»Ich kann ja verstehen, Mr. Holland, daß Sie lieber junge Damen betrachten als mich, aber ich erwarte, daß Sie wenigstens Ihre Ohren in meiner Richtung spitzen. Würden Sie also jetzt bitte die Frage beantworten.«

Die anderen lachten erheitert, und Mike sagte verlegen: »Entschuldigen Sie, ich habe die Frage nicht gehört.«

Adam Slocum seufzte wieder. Auch Mike Holland konnte er nicht böse sein. Der gutaussehende blonde Junge mit dem offenen Gesicht war nicht nur Klassensprecher und Mannschaftskapitän des Football-Teams, er war vor allem ein glänzender Schüler.

»Können Sie uns den Unterschied zwischen Venen und Arterien sagen?«

Mit einem raschen, ihm selbst völlig unbewußten Blick auf Mary trug Mike eine Antwort wie aus dem Lehrbuch vor. Während er sprach, sah Adam Slocum nachdenklich zu der kleinen McFarland hinüber, die augenblicklich mit einem entwaffnenden Lächeln antwortete.